Hans Wollschläger: Sudelbücher I – III

[Hans Wollschläger in Dörflis, Oktober 2006; Foto: Gabriele Wolff]

Heute wäre Hans Wollschläger 77 Jahre alt geworden. Für seine Freunde vier Einträge aus seinen unveröffentlichten ›Sudelbüchern‹:

»Glück« ist das Schweigen des Zeit-Bewußtseins, das grenzenlose Aufgehen im Augenblick; Intellekt ist sein Feind, »Genie« sein Tod; es ist bei denen, die geistig arm sind. Da es, zeitlos, keine Anteile von Erinnerung enthält, könnte es strukturell als Totale selber Die Erinnerung sein – aber an was? An die intrauterine Geborgenheit, habe ich früher immer gedacht und das Vage darin erleichtert ans Ende des Nachdenkens gesetzt. Aber je mehr man diese erinnert erlebt, in der gelingenden Sexualität etwa, desto deutlicher wird, daß sie nur ein Teil des Ganzen ist. Und man könnte sich – wo man kühn genug ist, den Gedanken-Gang in die Pränatalität anzutreten – denn leicht auch getrauen, ein paar Schritte weiter zu tun -: wohin käme man? Ist das Selbst-Verständnis der geschlossenen Wesenheit spätestens da am Ende, wo »die Zeugung« liegt? Wenn ihre Wiederkehr in der späteren Sexuallust nur eine Teilempfindung ist, – woher kommen die anderen Teile? Wäre die Zeugung nur der Verschweißungsvorgang der Ich-Entität mit dem Zeitlichen, des Immateriellen mit der Materie? Die Zeitlosigkeit der Erinnerung »Glück« vermöchte die Metaphysik zu beweisen, wenn sie selbst sich exakt beweisen ließe.

[undatiert, Mitte 1992]

                                                                          

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Überschrift »Vermischtes«

Was so »der Weltlauf« sei, ja die Welt schlechthin, läßt sich philosophisch mit allerlei Wörtern beschreiben, aber es bleibt doch immer ein unbefriedigender Rest, dem die Weisheitsfreundschaft nicht gewachsen ist. Man erblickt ihn immer dann, wenn die Haupt- und Staatsaktionen vom Tisch sind und man die Seite umwendet, dorthin nämlich, wo die Überschrift »Vermischtes« lautet: da steht dann auf einmal die eigentliche Wahrheit: ein kunstvoll vernetztes System von einander durchschießenden Elementarteilchen, deren ästhetische Botschaft die im Hauptblatt verbreiteten Schußwechsel mühelos überstimmt. Heute (25. 5. 93) sind sie, nebst von Gott natürlich, alle von der AP und ihren Kolleginnen, und vermischt hat sie die SZ, die dabei oft die besten Karten hat und der man gern genauer hineinsieht.
»Streit um englische Sechslinge«, sieht man da etwa: eine großbritische Frau hat, unersättlich kindersüchtig, obwohl bereits mit einem Sohn gesegnet, »auf Staatskosten eine Hormonbehandlung erhalten«, nach Vor-Diagnose durch »die behandelnden Ärzte« den ihr vorgeschlagenen Abbruch abgelehnt, um »der Natur freien Lauf zu lassen«, und in der Folge fünf Mädchen und einen Jungen zur Welt gebracht. Nun ist die Natur obenauf, aber die Nation in Aufruhr, obwohl nicht ganz klar wird, warum. »Wie sei es nur möglich, daß eine junge ledige Mutter eine Hormonbehandlung bewilligt bekomme, wenn Hunderte von kinderlosen Ehepaaren auf den Wartelisten stünden«; es scheint eine komplizierte Prozedur zu sein und, »Schätzungen zufolge«, eine teure dazu, was wohl einleuchtet, da die behandelnden Ärzte mit von der Partie sind: »mehrere zehntausend Pfund« kommen da mit der anschließenden Brutpflege rasch zusammen; andererseits aber sind ebenso offenbar die Wartelisten lang, und nun weiß man wirklich nicht mehr, was sich die Nation eigentlich wünscht, nachdem »Ärzteverbände, Religionsgruppen und Familienorganisationen« sogar glattweg »einen Skandal heraufziehen« sehen: mehr Kinder – oder mehr hormonbehandelte Ehepaare, die aber dann möglichst folgenlos handeln sollen? Der »Staatsminister im Gesundheitsministerium« hat vor Schreck sofort »mehr Sorgfalt bei der Verwendung von Steuergeldern« versprochen, was sicher einerseits höchstlich zu wünschen ist, andererseits jedoch die Zahl der künftigen Zahler reduziert. Das Patentrezept haben jedenfalls die Ärzte gefunden, nämlich erst für mehrere zehntausend Pfund zu behandeln und dann zum Abbruch zu raten – ein Verfahren, das für ihre gesamte Therapiebetätigung Schule machen sollte.
Das Empire wird sich wieder beruhigen und bewundernd eine Nachricht weiter nach unten blicken, wo in Buenos Aires die Natur ohne jede staatliche Verwendung ihren Lauf genommen hat und sogar »bei einer Frühgeburt nach nur sechs Monaten« Sechslinge zur Welt gekommen sind: die »erste Geburt von Sechslingen in Argentinien« – allerdings diesmal nur »Presseberichten zufolge«, die oft bloße Schätzungen sind und eundo crescendieren; dort lassen »die Ärzte« ihnen beruhigenderweise »gute Chancen für ihr Überleben« und den Steuerzahler ungeschoren.

Kinder haben es überall schwer, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Während in Gießen, ganz unten, Eltern ihren 9-jährigen Sohn ganz einfach an einer Straßenkreuzung vergaßen und erleichtert nach Hause fuhren, ist weiter oberhalb in »Pabna im östlichen Bangladesch« das Streben nach Sechslingen und ein mögliches späteres Kreuzungsschicksal gleich im Keim erstickt worden: der dortige Koranlehrer hatte sich in der Moschee, »am heiligen Ort«, mit einer seiner Schülerinnen eingelassen; die Journalisten sind überall, und »peinlicherweise war nach wenigen Tagen sogar in der Presse darüber zu lesen«, schreibt die Presse, die es uns zu lesen gibt. Die Strafe für »das ungezügelte Treiben im Gotteshaus«: 60 Stockschläge auf die an sich unbeteiligten Fußsohlen, Geldbuße und – zur Verschärfung, da auch dort zumindest Religionsgruppen und Familienorganisationen zuständig wurden – sofortige Verheiratung. Das Problem ähnelt sich weltweit aufs täuschendste, besonders wenn die Zeitung ihre Beiträge damit vermischt, und nur der Beitrag des Staates unterscheidet sich hier und dort. Entsprechend schwankt auch das Mitgefühl des Betrachters hin und her und weiß nicht recht, wem es sich dauerhaft zuwenden soll. Der Schülerin in Bangladesch, der es eine Koranlehre sein wird, oder dem Schüler, der in Baton Rouge an einer Haustür, als er sich arglos den amerikanischen Weg erfragen wollte, vom Besitzer erschossen wurde; der hatte sich »Sorge um seine Familie« gemacht und als Pfarrerssohn natürlich auch die entsprechende Religionsgruppe in der Nähe, und entsprechend wurde er vom Geschworenengericht freigesprochen.

Ein Stück darüber, »in der australischen Stadt Adelaide«, gehört es entschieden den Schleiereulen, vieren zwar nur, aber dafür ganz und gar »elternlosen«: sie wurden beim Abriß eines Gebäudes entdeckt, »unter dessen Dach sie ihr Zuhause hatten«, und werden nun »in einer Station für Tierwaisen auf die Welt vorbereitet, in die sie noch ziemlich verwundert schauen«. Das sieht man sogar im Bild, das die AP davon gefertigt hat: die Verwunderung ist fraglos authentisch. Der nach schräg unten gerichtete Blick scheint das Schicksal der menschlichen Architektur zu bedenken und erfaßt vielleicht schon sorgenvoll die Tragweite der dort stehenden Nachricht aus dem »niederrheinischen Goch«:

»Millionenschaden durch eingestürztes Kirchendach«. Die Polizei hat für AP alles untersucht und mitgeteilt, »das gesamte Dach sei gegen 2.25 Uhr aus bis jetzt unbekannten Gründen in sich zusammengefallen«; das Pfarrhaus daneben wurde »durch herabstürzende Teile so schwer beschädigt, daß es zum Teil nicht mehr bewohnbar ist«; »einige umliegende Straßen mußten für den Verkehr gesperrt werden«. Welche Gründe immer das Dach gehabt haben mag, in sich zusammenzufallen, »Menschen kamen jedoch nicht zu Schaden«, sondern hatten vielmehr noch den Nutzen der Verkehrssperrung; freilich bleibt man ratlos, wer denn dann den Millionenschaden hat, der »entstanden« ist. Am Ende denn wohl Gott, der bald nirgends mehr wohnen kann, wenn auf dem Planeten die Sechslinge zurückgehen, die Eltern immer vergeßlicher werden und selbst das ungezügelte Treiben durch herabstürzende Teile in die Unbewohnbarkeit führt.

»Ausbau der Gefängnisse soll im Ausland Vertrauen wecken«, in Florida nämlich, so liest man noch: – nicht ausgeschlossen, daß es Erfolg hat. Das Universum scheint aber eher traditionell vorsichtig zu sein, und ob »21.000 zusätzliche Gefängnisplätze« ausreichen, um endlich »Touristen aus aller Welt« anzulocken, steht sehr dahin. »Glückliche Rettung«? Ach, ihr Schleiereulen!

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»Vermischtes«

Famos ist auch immer wieder meine Lieblingsseite »Vermischtes«. Sie meldet mir nicht nur das Wetter, über das ich mich als Person mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen freuen kann, da es mir eine Entlastung bringt (es kommt allerdings, schreibt das Blatt mir warnend, dabei zu einer Beschleunigung der Pulsfrequenz), sondern auch, daß Brigitte Bardot, franz. Schauspielerin (1934), heute ihren Geburts- und Pierre Trudeau, kanad. Premier (1919-2000) seinen Todestag hat; die doch immer bewegende Frage »Was koch’ ich?« wird gelöst (Hähnchenbrust mit Sellerie-Möhren-Püree; als Beilagen Blätterteiggebäck und wilder Reis), und »Ein guter Tipp« kommt gratis hinterher (Blätterteig geht beim Backen schön auf, wenn ich das Backblech einfach nur mit kaltem Wasser kurz abspüle). Es gibt auch eine Ausstellung über »die süßen Seiten Bremens«, in welcher der »Weg der Kakaobohne zur beliebtesten aller Süßigkeiten« sowie schokoladenüberzogene Büsten nicht nur von Marylin Monroe, amer. Schauspielerin, und Napoleon, frz. Empereur, sondern auch von Mozart und Goethe gezeigt werden. Mozart ist ja als Süßware durch die nach ihm benannte Kugel bereits ausgewiesen; Goethe dagegen nimmt sich noch etwas fremdartig an seiner Seite aus, und man fragt sich, ob ihm die bewährte Kombination mit Schiller nicht besser zu Gesicht stünde. Wie dem aber auch sei – es steht jedenfalls genug Material zur Verfügung, um sich mit den eigentlichen Nachrichten aus aller Welt zu vermischen, die leider für sich genommen nicht anheimelnd sind. »Über 600 Menschen nach Schiffsunglück vermisst«, »Tödliche Verfolgungsjagd«, »Blutbad bei Bankraub«, »Erst 13 Leichen geborgen« – so heißen ihre Headlines, die auf den Schokoladenüberzug warten, und wie die Dinge stehen, bleibt einem kein Ausweg, als inzwischen dem Abschnitt Gartenwetter zu folgen und sich der Einerntung der Roten Beete zu widmen: sie stellt keine hohen Ansprüche an den Boden, ist mit dem Mangold verwandt und unbedingt reich an Kalium und Kalzium. »Teils freundlich, teils Hochnebel« steht über dem Ganzen, und so wird es denn wohl auch immerfort sein und bleiben.

[undatiert, 2002; Geburtstag von Brigitte Bardot und Todestag von Pierre Trudeau: 28.9.]

 

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»Kultur«

Mit Politikern kann man zwar nach immer noch geltender Auffassung Staat machen, aber Kultur doch nicht, und der Begriff »Politische Kultur« ist vollends eine contradictio in adiecto. Aber gerade weil der Wille zur Macht ja wesentlich eine kriminelle Energie ist und entsprechende Miserabilien zeitigt, entsteht bei Politikern, wenn sie in die Jahre kommen und man ihren Zügen die Verwüstung durch die habituell geübte Gemeinheit und Niedertracht ansieht, irgendwie das Bedürfnis, sich zu verschönen: sie führen das Wort »Kultur« immer häufiger im Mund, und es gibt ein regelrechtes Gedränge, wenn die Gelegenheit zu feierlichem Mienenspiel sich nähert und einen Fototermin abwirft. Viele sind, schon rein physiognomisch, nur zur Eröffnung von agrarkulturellen Ereignissen geeignet, das ist wahr, und wirken in Kunstausstellungen arg deplaziert; der Kulturbegriff hat sich aber in neuerer Zeit auch in diesen sehr gewandelt, so daß es nicht mehr so auffällt wie früher, und erweitert sich laufend derart, daß alle irgendwie doch ihr Unterkommen finden. Es gibt inzwischen die Aktienkultur, die Bierkultur, die Schlafkultur und viele andere Kulturen von gleicher Dignität.

Parteien, schwer zu differenzieren: Die Rechten tummeln sich auf Veranstaltungen mit sozialem Anstrich, weil sie ja mal nicht so sein wollen (nämlich so, wie sie sind), und die Linken lassen sich gern bei der Industrie sehen, um den Eindruck zu erwecken, daß sie eigentlich auch so sein könnten wie jene, was ihnen tatsächlich auch verblüffend gut gelingt. Dies könnte, als Form der Wiedervereinigung, an sich sehr schön sein und im Handumdrehen zu Blühenden Landschaften führen, wenn nicht – ja, wenn die Einigkeit nicht zu einem Einverständnis geführt hätte, das, vor schon geraumer Zeit nun, sein Versteck im Hintergrund verlassen und keinerlei Scheu mehr vor der Rampe hat. Während früher zwar die Inhalte gleichgültig waren, solange nur die Gegensätzlichkeit gewahrt blieb, und sich darauf rechnen ließ, daß auch der Kulturnihilismus, egal wer sich zu ihm bekannte, auf der Anderen Seite mit einem Bekenntnis zur Kulturförderung beantwortet wurde. Liegt es daran, daß so viele politische Tätigkeiten aufgeflogen sind, daß die Verschönerungsversuche eh nicht mehr wirken? Es läuft alles weiter wie gehabt: die Dichter dichten, die Denker denken, der Pöbel pöbelt, und der Staat hält sich raus, was ja auch gar nicht so schlecht ist.

[undatiert; 2004]

 

Mit herzlichem Dank an Monika Wollschläger für die Erlaubnis zur Veröffentlichung

Hans Wollschläger:

zur Langen Straße : Messerschmitt – die Banken : der graue Taumel bürgerlicher Beflissenheit –: taubstumme Lemuren an den Haltestellen – auch seidig kleiderne Geschäftshalbwelt : Mitbruder Pausenlos stieg aus und ein und aus – die peinlichste aller Verwandtschaften : stolperte geduckt in die quirlende Maschinerie : war weg und wieder da und wieder weg und da : man kann sie sich nur noch mit den Augen aus den Augen halten – die unerschöpfbar ersetzliche Art – die unerschöpft ersetzte : und das Gräßlichste an dieser ganzen Bourgeoisie ist zuletzt, wie damals, wieder dies : fünftausend Tage wie der eine Tag, der nie vergangen ist : es erleichtert einem ja doch das schlechte Gewissen – das man immer noch bei dem guten Gewissen hat, mit dem man sich absondert : entfernt – aus all den bloß von Kleidern gemachten Leuten : Mittelständlern, Zwischenhändlern, Handelsspannern – der Freien Wirtschaft liebsten Kindsköpfen : den unverwandelten Schwindlern : kein Zweifel, daß sie in kürzester Bälde als Fett des Kontinents wieder obenauf schwimmen werden

aus: Herzgewächse oder der Fall Adams

Fragmentarische Biographik in unzufälligen Makulaturblättern

[EA 1982]

Herausgegeben von Monika Wollschläger, Wallstein Verlag Göttingen 2011, S. 97

http://www.wallstein-verlag.de/9783835309586.html

Und das ist dann doch merkwürdig, wie ich an dieses Zitat gekommen bin; ich hatte mir nämlich vorgenommen, aus diesem unerschöpflich ausdeutbarem zeitlosen Buch (das dennoch sehr konkret im Jahr 1950 angesiedelt und daher von Krieg, Vernichtung und Schuld durchdrungen ist) mittels blinden Stechens ein Zitat auszuwählen – die ersten drei Versuche fielen allerdings auf barocke Reden des Widerparts des Ich-Protagonisten Michael Adams, auf  F. A. Galland also. Der alles das an weltlicher Macht verkörpert, was dem nach Bamberg zurückgekehrten Emigranten Adams zuwider ist und das er dennoch begehrt, um seinen Schriften für die Humanität Wirkung zu verschaffen.

Merkwürdig sind meine drei Fehlversuche vor allem deshalb, weil die faszinierende Mephisto-Gestalt des Galland in Wollschlägers Text den Raum nicht beansprucht, als daß die ersten drei Zufallsfunde nun ausgerechnet auf ihn hätten fallen müssen. Aber zur Resignation und zum Verfall von Adams paßt dieses Ergebnis. Damals wie heute. Und wenn man die Analogieen weiterspinnt: zwanzig Jahre vergingen zwischen Abschluß des  zweibändigen Werks und einer ersten Veröffentlichungschance. Wie fremd einem die eigenen Worte erscheinen, wenn man sie in einem Abstand von zwanzig Jahren liest!

Die Erstveröffentlichung der ›Herzgewächse‹ von 1982 beruhte auf einer Fassung, die von der Urversion keinen Stein mehr auf dem anderen ließ. Zur Umarbeitung des alten zweiten Bandes fehlte die Kraft – nur ein Kapitel daraus, das den Sog in den Ursprung von Allem als mehrfach überblendete Reise vor Ohr und Auge führt, wurde der neuen Fassung angepaßt.

Ich glaube fast, daß ein Buch, das so aufs Ganze zielt, Fragment bleiben mußte, ganz im Sinn der Romantiker wie Novalis, die wußten, daß das Fragment die angemessene Form ist.

Lest dieses Buch dennoch. Es steht alles drin.

Die aktuelle  Zeit ist insgesamt allerdings merkwürdig genug; da macht sich eine wahrhaft Überzeugte wie Iris Radisch im Jahr 2010 für den Vegetarismus anläßlich des Erscheinens eines flachbrüstigen, aber vieldiskutierten Büchleins eines amerikanischen Bestseller-Autors mit vagen Befindlichkeitsstörungen stark:

http://www.zeit.de/2010/33/Vegetarismus-Essay

und erwähnt mit keinem Wort das sprachmächtige, die Thematik tief durchdringende, zu tief durchdringende, denn es geht auch um Sadismus, Todestrieb und den medizinischen Komplex, Buch von Hans Wollschläger: ›»Tiere sehen dich an« oder Das Potential Mengele‹, EA 1987 (im Jahr 2002 mit anderen einschlägigen Essays und Reden in die Schriften in Einzelausgaben übernommen).

http://www.wallstein-verlag.de/9783892445166.html

Schade. So dürftig begründet wird Vegetarismus wohl als Modeerscheinung zu verbuchen sein, und man wird den Eindruck nicht los, daß den derart ›informierten‹ Anhängern dieses Trends Fleisch schlicht nicht schmeckt. Oder daß sie ihn propagieren, weil er ins angesagte Diät-Programm zur Selbstoptimierung paßt. So wie Trennkost.

Man sollte etwas tun, damit Hans Wollschlägers Weltpessimismus nicht Recht behält. Nur was? Er hat ja recht.

8 Gedanken zu „Hans Wollschläger: Sudelbücher I – III

  1. Man darf optimistisch sein, was die Veröffentlichung des Briefwechsels Schmidt-Wollschläger angeht; Susanne Fischer, Geschäftsführerin der Arno Schmidt Stiftung, hat zu diesem Thema am 29.3.2012 auf der Arno Schmidt Mailing-Liste auf entsprechende Anfrage mitgeteilt:

    Wollschläger: Alle Rechte sind geklärt und der Band ist in Bearbeitung. Einen verbindlichen ET kann ich derzeit trotzdem nicht nennen. Der Band wird sehr umfangreich, und die Arbeit daran verzögert sich aus Gründen, die nichts mit der Rechtslage o. ä. zu tun haben.

    Die mutmaßliche Einwilligung, diese Information aus der Halböffentlichkeit der Mailing-Liste in die begrenzte Öffentlichkeit dieses Blogs zu heben, habe ich vorausgesetzt: gute Nachrichten sollten doch verbreitet werden…
    Mag Arno Schmidt in der medialen Rezeptionsgeschichte Mays als Kommentator und Interpret auch nur eine Fußnote sein, wie jetzt zum 100. Todestag Karl Mays geschehen: der Briefwechsel wird belegen, welche indirekte starke Wirkung er tatsächlich gehabt hat.

  2. Liebe Frau Wolff,
    Na war das eine angenehme Ueberraschung, diese Texte auf meinem Computer zu finden! Wallstein hat, wie ich informiert worden bin, zwei oder drei weitere Bände geplant, und auf die freue ich mich jetzt schon, sammle ich doch HW seit dreissig Jahren.
    Interessant auch der Hinweis auf May (ich wurde vor vielen Jahren Mitglied der Karl May-Gesellschaft, weil ich herausgefunden hatte, dass Herr Wollschläger Vorstandsmitglied war. Und von Ihnen, liebe Frau Wolff, gibt es ja das dicke Karl May-Jahrbuch 2001.
    Danke sehr für den Hinweis auf die Briefe im 3. Band der Schriften der Hiller-Gesellschaft. Auf den Briefwechsel mit Arno Schmidt allerdings wage ich schon gar nicht mehr zu hoffen.
    Mit besten Wünschen grüsst Sie
    Albert Locher.

    • Beste Güße zurück!
      Dochdoch, die Hoffnung ist erlaubt; Rudi Schweikert würde sicherlich nicht öffentlich verbreiten, er begebe sich an die Herausgebertätigkeit dieses Briefwechsels, wenn dem nicht so wäre. Aber über den Stand des großen Vorhabens weiß ich nichts.

      @ QuoVadis:

      Das freut mich, sollte es gelungen sein, einen neuen Leser zu gewinnen.
      Hier ein online verfügbarer Text von Hans Wollschläger:

      Rede vom 7. November 2001 anlässlich der Verleihung des Kulturpreises der Bayerischen Landesstiftung:
      http://www.zeit.de/reden/bildung_und_kultur/wollschlaeger_111501

      Man bedenke: da fing der Krieg in Afghanistan, der Öffentlichkeit seinerzeit als begrenzte Kommandoaktion gegen den Terrorismus vermittelt, gerade erst an…

  3. Ein Fragment enthält das Wesen des Ganzen. Die ganze Kette ist so stark, wie ihr schwächstes Glied.

    Bis jetzt war Hans Wollschläger mir unbekannt.

    Aber ich habe immer gerne Dawkins und Chomsky gelesen.

    Jetzt die Auszüge aus den Sudelbüchern machen mich verlegen, sie wirken auf mich fast beschämend, auf eine sinnliche Weise, die jedoch auf mich nicht unangenehm wirkt, sondern in mir ein Verlangen weckt mit seiner Schrift weiter zu gehen.

    Das ist so, daß man sich bewusst ist den Horizont nie erreichen zu können – wie auch, das ist eine Utopie -, egal wie tüchtig man mit den Füßen stampft, aber es ist besser gen die imaginäre Linie zu marchieren, als sich davon zurückzuhalten dem Unerreichbaren näher kommen zu wollen.

    Wollschlägers „[…]der Begriff »Politische Kultur« ist vollends eine contradictio in adiecto.[…]“ hat für mich so weit – „linguistischerweise“ – einen Oxymoron bedeutet. Obwohl, natürlich, hat W. Recht. Es ist nicht linguistisch zu deuten – ich lag völlig falsch – es ist tatsächlich kein Vergehen im Bereich der Sprache, sondern ist es ein Vergehen im Bereich des Verständnisses der Wörter „Kultur“ und „Politik“, die nebeneinanderer aufgestellt zu haben.

    Nur da könnte man sich in eine Zone des suizidalen Nihilismus begeben, wenn man nicht ein Antidoton dagegen hätte. Und das, scheint mir, W. zu besitzen: er schreitet einfach weiter, zum Horizont…

    Und falls ich auf’m falschen Weg bin…

    Ich werde W. einfach weiter lesen.

    LG, QV

  4. Danke für das schöne Foto und die „Sudelbuch“-Extrakte! Es bleibt zu hoffen, dass der Wallstein-Verlag auch den Nachlass Hans Wollschlägers zumindest in Auszügen publiziert – dort liegen ungehobene Schätze. Und eine Briefauswahl würde zeigen, dass HW auch einer der großen Briefeschreiber des vergangenen Jahrhunderts war.

    • Gern geschehen, 🙂

      Eine handvoll Briefe gibt es bereits hier:

      Rüdiger Schütt: „Dass Sie mir unverlierbar gegenwärtig sein werden, solange ich lebe…“ Hans Wollschlägers Briefwechsel mit Kurt Hiller 1965 bis 1972. In: Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft, Bd. 3. Hrsg. von Harald Lützenkirchen. Fürth 2007, S. 224-262

      Ein Wesenszug von Hans Wollschläger sticht auch bei diesem Briefwechsel hervor: daß sich eine hohe Verehrungsbereitschaft sowie Höf- und Freundlichkeit mit der Vertretung eines eigenen Standpunktes vereinbaren läßt.

      Unglücklicherweise hat der Herausgeber nachträglich zahlreiche vorgesehene Fußnoten gestrichen, die Binnenverweise aber nicht angepaßt, und so liest man dann Anmerkungen wie: »67 Vgl. Anm. 67.« oder gar: »80 Robert M = Robert Müller (vgl. Anm. 94, 101)«, während es nur 88 Anmerkungen gibt.

      Und dann darf man sich natürlich auf den einzigartigen umfangreichen Briefwechsel mit Arno Schmidt freuen, für May-Freunde ein absolutes Muß: Rudi Schweikert sitzt ja seit Dezember 2010 an der Herausgabe für die Schmidt-Stiftung, glaubt man diesem Artikel:

      http://www.morgenweb.de/nachrichten/kultur/besuch-bei-randgestalten-1.290591

      Allzulange wird man also wohl nicht mehr warten müssen, hoffe ich.

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