Die Sache mit dem Sex – dürfen Frauen jetzt doch wollen, was sie wollen?

Versprochen – das hier ist endlich einmal ein rundum erfreulicher, total optimistischer Beitrag, der zu den schönsten Hoffnungen Anlaß gibt. Immer nur kritisieren und lamentieren bringt ja nichts. »Und wo bleibt das Positive?« ist schließlich eine berechtigte Frage.

Die erste gute Nachricht: der Hochsommer fand an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Mai statt – fast schon ein deutscher Rekord. Und wenn auch der eine oder die andere darob ermattet zusamensank,

so reichte doch ein kühler Trunk, der binnen einer guten halben Stunde wieder auf die Beine half.

Heiße Tage, heißes Thema, ein heißes Eisen gar. Nun wird es beherzt angepackt.

Hier hatte ich am 15.5.2012 noch harsch den bevormundenden Feminismus à la Schwarzer kritisiert, der den Frauen die genderpolitisch unkorrekte Lust verbietet und sich maßregelnd in die Beziehungsgestaltung durch Frauen, Ehefrauen und Mütter einmischt:

https://gabrielewolff.wordpress.com/2012/05/15/das-private-ist-politisch-anne-sinclair-und-der-bevormundende-feminismus/

Die Frau ist ja immer die größte Kritikerin der Frau…

Damit meine ich jetzt nicht Selbstkritik, das wäre ja mal was. Nein, es geht immer um das Leben der Anderen, denen das eigene Lebenskonzept als überlegen angedient werden soll. Die eigene Biographie – die immer eine Geschichts- und Erinnerungsklitterung ist, die mehr von Selbstermächtigung handelt als von den real existierenden Zufällen, die sie regieren – wird hypertrophiert und als alleinseligmachendes Modell auf den Markt der Eitelkeiten geworfen.

Alice Schwarzer führt dieses Phänomen, das mir sehr wesensfremd ist, mustergültig vor. In EMMA 2/2010 blickt sie auf die fünfunddreißig Jahre zurück, die seit ihrem Bestseller vom »kleinen Unterschied« vergangen sind: und obwohl sie in der Überschrift konstatiert, daß seitdem »viel passiert« sei, stellt sie letztlich fest, daß in der Sexualität letztlich Alles beim Alten geblieben sei und kaum eine Frau ihren höchstpersönlichen Weg der frei gewählten (wenn nicht gar flottierenden) sexuellen Orientierung beschritten habe. Ich greife ein paar Kernsätze heraus:

Doch in jüngster Zeit schlagen Sexualwissenschaftlerinnen wie Margret Hauch vom Hamburger Institut Alarm. Sie stellte fest, dass Frauen aller Generationen zunehmend unzufriedener sind mit dem Sex als Männer. Jede Dritte tut sich gar schwer, überhaupt sexuell erregt zu sein.

Da ist die einschüchternde, mediale Sexualisierung aller Lebensbereiche sowie die epidemische Pornografisierung der Sexualität. Und da sind die neuen Machos aus den alten Machokulturen, die als Platzhirsche unsere „neuen Männer“ an die Wand drücken.

Doch hat diese Entwicklung wirklich das Gebot der Monosexualität erschüttert? Nicht zwingend. Eher im Gegenteil: Sie hat sie verfestigt. Denn heute sind die Menschen zwar nicht mehr zwangsheterosexuell, aber sie sind entweder heterosexuell oder homosexuell. Und es heißt wieder, die „sexuelle Orientierung“ sei angeblich angeboren, zumindest aber irreversibel geprägt.

Sicher, die sexuelle Präferenz mag häufig früh geprägt sein und die jeweilige Neigung eine tiefe Vorliebe – unerschütterlich jedoch ist sie nicht. Das haben nicht zuletzt die vielen heterosexuell lebenden Frauen in den 1970er Jahren gezeigt, die sich im Zuge der „neuen Zärtlichkeit“ plötzlich reihenweise in Frauen verliebten.

http://www.emma.de/hefte/ausgaben-2010/fruehling-2010/sex-bestandsaufnahme-35-jahre/

So hat sie es nämlich selbst gemacht, und an ihrem sehr individuellem Wesen soll nun mal ganz Deutschland genesen. Das biographische Material erhellt, wie es für sie zu der Spaltung von Sexualität in eine ›zärtliche‹ (zwischen Frauen) und eine unterdrückende/gewalttätige (zwischen Männern und Frauen) kommen konnte. Liebe, Gender, Sexualität und Beziehung sind nur soziale Fragen, über die sich frei entscheiden läßt. Hätte sie sich ohne die Frauenbewegung plötzlich für Frauen als Sexualpartner entschieden? Folgerichtig wird die Biologie in die Pflicht genommen, diese absurde These der freien Wahl zu bestätigen (wobei mal wieder ungenannte Studien Eideshelfer spielen dürfen):

Alice Schwarzer:

Schließlich hat das Liebesmonopol von Männern über Frauen für das starke Geschlecht sehr nützliche Folgen: Im Namen der Liebe neigen Frauen zur Selbstaufgabe, Gratisarbeit und Relativierung ihrer eigenen Existenz.

Bemerkenswert ist, dass auch die Sexualpraktiken wieder schmalspuriger geworden sind. Das belegen Studien: Sex zwischen Frauen und Männern gleich Koitus. Das weibliche Sexualorgan ist bekanntermaßen nicht die empfindungslose Vagina, sondern die Klitoris. Dass Frauen trotzdem Lust empfinden beim Koitus, hat sowohl psychische Gründe (die Vereinigung), als auch physische: Beim Eindringen in die Vagina können die Schwellkörper der Klitoris aktiviert werden.

Soweit die Anatomie. Doch das wichtigste Sexualorgan ist und bleibt der Kopf. Und der scheint bei Frauen noch präsenter zu sein als bei Männern. So empfinden interessanterweise körperlich erregte Frauen keine Lust, solange sie nicht auch begehren. Gar nicht so einfach, das mit der Lust und den Frauen.

http://www.emma.de/hefte/ausgaben-2010/fruehling-2010/sex-bestandsaufnahme-35-jahre/

Körperliche Erregung soll keine Lust sein? Was denn sonst? Janun. Man kann auch einfache Dinge verkomplizieren. Und komplizierte vereinfachen. Denn wenn der Koitus schon entbehrlich ist, wie die Expertin weiß, dann muß die falsche Lust wenigstens eingehegt, begrenzt und domestiziert werden. Da weiß sie sich einig mit der katholischen Sexualmoral:

Sexualmoral

„Alice Schwarzer könnte Verbündete des Papstes sein“

Aus: Ausgabe 47/2011

Benedikt XVI. hat an die Katholiken appelliert, entschieden gegen Pornografie vorzugehen. Der Moraltheologe Martin Lintner über Würde, Wollust und Weltbild

[…]

Buchtipp: Martin M. Lintner: Den Eros entgiften. Plädoyer für eine tragfähige Sexualmoral und Beziehungsethik. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2011. 182 Seiten, 17,95 Euro.

http://www.christundwelt.de/themen/detail/artikel/alice-schwarzer-koennte-verbuendete-des-papstes-sein-1/

Der Eros an und für sich ist nämlich giftig, wie die Kirche (nicht etwa Jesus) schon lange vor dem Feminismus wußte. Wir würden glatt ums Leben kommen, wenn es keine Autorität gäbe, die uns sagen, was wir wie zu tun oder zu lassen haben im Umgang mit dem gefährlichen Tier in uns. Ja, das ist wörtlich zu nehmen: Vormünder wie Kirche und Feminismus bringen einen um das Leben, wenn man sich ihnen beugt…

Doch kommen wir zum versprochenen optimistischen Teil, denn Schwarzers Lebens- und Sexualrezepte taugen nichts für die Mehrheit der Frauen, die sich nun mal nicht in Frauen verlieben, sondern in Männer. Ein Verlieben auf Kommando oder aus höherer Einsicht gibt es nämlich nicht. So will es verteufelterweise die Evolution, die auf Fortpflanzung gerichtet ist und die der Mehrheit der Menschen daher eine eindeutige innere wie äußere Geschlechtszugehörigkeit sowie eine eindeutige Präferenz des gegengeschlechtlichen Partners verordnet. Daß wir Minderheiten, die anders empfinden und begehren, achten und vor Diskriminierung schützen, ist eine der schönsten Blüten der Humanität. Zur Auflösung der höheren Ordnung aber kann und soll diese aktive Toleranz allerdings nicht führen: es ist nicht alles nur ein soziales Konstrukt, an dem man beliebig herumdoktern kann.

Feministinnen wie Julia Seeliger haben Schwarzer denn auch entschieden widersprochen:

Es kann ja sein, dass der Koitus entbehrlich ist und dass er für sexuelle Lust nicht nötig ist. Er schadet aber auch nicht und es ist auch nicht nötig, so sehr dagegen zu hetzen.

Das klitorisfixierte Gerede von Schwarzer nützt nichts und schadet nur. Denn zum einen wird die Orgasmushatz noch größer und das Schweigen nach dem Sex noch kälter. “Wars schön für dich” “Ja klar”. Und zum anderen reißt die Sex-Ideologie Gräben auf, die nicht nötig sind.

Und verstärkt Klischees. Genauso falsch wie das blöde Klischee, das Schwule immer nur Analverkehr haben – in absoluten Zahlen sind da eindeutig die Heteros vorn – ist es auch nicht richtig, dass sich Lesben die ganze Zeit streicheln, BDSM brutal ist und Heterosexuelle immer nur Vaginalverkehr in Missionar- und Hündchenstellung haben. Sex ist vielfältiger als die billigen Klischees, die von Alice Schwarzer verbreitet werden.

[…]

In einer gleichberechtigten Beziehung sollte der Partner oder die Partnerin ein Interesse haben, dass Sex dem anderen auch Spaß macht. Und natürlich ist auch jeder Mensch selbst in der Verantwortung, herauszufinden und zu artikulieren, was gefällt. Nicht gleichberechtigte Beziehungen sollte es nicht geben. Gibt es sie doch, ist das nicht an erster Stelle ein strukturelles Problem mit sexuellen Orientierungen oder biologischen Geschlechtern, sondern ein Problem in der Beziehung, das kommunikativ gelöst werden sollte.

Zwar werden wir allein mit Kommunikation das Patriarchat nicht überwinden. Jedoch kann sie mehr bewirken, als es bislang versucht wurde. Das Private ist doch politisch.

http://seeliger.cc/2011/alice-und-der-sex/

So verstanden stimmt der Satz von dem politischen Privaten natürlich. Welch ein Lichtblick, endlich einmal das Wort von der eigenen Verantwortung zu lesen, die zu einer gelingenden Sexualität auf Augenhöhe führe, und nicht immer nur von patriarchalischen Strukturen, männlicher Hegemonie und maskulinen Privilegien, die es natürlich auch im Bett gebe.

Aber es wird noch besser: begeben wir uns in das dunkle Reich der weiblichen Lust.

Das hat Barbara Sichtermann in ihrem neuen Buch ›Was Frauen Sex bedeutet. Eine Befragung‹ erforscht, das ich hier

https://gabrielewolff.wordpress.com/2012/04/17/frauen-zwischen-schmerzensmannern-frauenquote-und-top-model-was-will-das-weib/

bereits erwähnte. Wer hätte das gedacht, daß dieses befreiende Werk in feministischen Kreisen auf warme Aufnahme stößt? Ich jedenfalls nicht. Und so wurde ich von Antje Schrupps positiver Rezension nicht nur kalt erwischt, sondern auch in gute Laune versetzt:

Ohne jede Moral: Was Frauen Sex bedeutet

Frauen und Sex ist ein mühsames Thema, vor allem weil es normalerweise nie diskutiert wird, ohne die Antwort mit den Männern zu vergleichen: Wollen Frauen seltener Sex oder genauso oft? Wollen sie “kuscheligeren” Sex oder ist das nur anerzogen?

Wunderbar anders geht Barbara Sichtermann an das Thema heran. Sie lässt sieben Frauen ihre Geschichte erzählen und verpackt das Ganze in Romanform: Ihre fiktive Ich-Erzählerin soll Frauen für eine sozialwissenschaftliche Studie zum Thema Sex befragen und gibt dabei nichts vor, sondern lässt die Interviewpartnerinnen einfach frei erzählen, was ihnen dazu einfällt.

[…]

Die Geschichten sind individuelle Geschichten, die Ansichten und Erfahrungen der Frauen unterscheiden sich stark, widersprechen sich teilweise krass, Gemeinsamkeiten finden sich eigentlich kaum, wenn man die äußeren Fakten ihres Umgangs mit Sexualität betrachtet oder ihre Einstellungen dazu.

Aber gerade deshalb tritt das, was sie gemeinsam haben, umso frappierender zu Tage: Und das ist die vollständige Abwesenheit jeglicher Moral. Das ist ein sehr interessanter Befund, denn schließlich hat man das den Frauen doch lange zugeschrieben – dass sie moralisch wären, gerade im Bezug auf Sexualität. Doch das sexuelle Begehren scheint sich, auch wenn es sich bei jeder Frau völlig anders äußert, genau nicht in konventionelle Beziehungsformen leiten zu lassen, selbst bei den Frauen nicht, die dieses Bild nach außen aufrechterhalten. Das Begehren folgt einer anderen Logik, es überwältigt, schmeißt Konventionen um, ist unverfügbar, bringt Dinge durcheinander.

[…]

Barbara Sichtermann: Was Frauen Sex bedeutet. 183 S., Brandes & Apsel, Frankfurt 2012, 17,90 Euro.

http://antjeschrupp.com/2012/05/15/ohne-jede-moral-was-frauen-sex-bedeutet/

Ja, die Liebe ist eine Himmelsmacht und die Lust ein reißender Strom. Wie schön, daß das Leben selbst sich endlich wieder in den Vordergrund schiebt, fernab von schablonenhaften Betrachtern. Antje Schrupp deutet sogar an, was das eigentliche Problem mit der Sexualität ist: die Unlebbarkeit von Monogamie, soweit sie mit sexueller Treue gleichgesetzt wird. Denn ach, die Attraktion schwindet, und was macht ein Paar dann, das dennoch zusammenbleiben will? Davon wußte schon Schiller, der zwei Schwestern liebte und eine Ehe zu dritt präferierte, ein Lied zu singen:

Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
Ob sich das Herz zum Herzen findet!
Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.
Lieblich in der Bräute Locken
Spielt der jungfräuliche Kranz,
Wenn die hellen Kirchenglocken
Laden zu des Festes Glanz.
Ach! des Lebens schönste Feier
Endigt auch den Lebensmai,
Mit dem Gürtel, mit dem Schleier
Reißt der schöne Wahn entzwei.
Die Leidenschaft flieht!
Die Liebe muß bleiben,
Die Blume verblüht,
Die Frucht muß treiben.

(aus: Das Lied von der Glocke, 1799)

Mit diesem Problem schlägt sich auch die Menschheit im 21. Jahrhundert noch herum, und so erscheint es schon als Fortschritt, wenn die allen Konventionen trotzende weibliche Sexualität ›ohne Moral‹ in den Blick gerät. Das ist allemal besser als das biedermeierliche Opfergeschrei betrogener Frauen, die auf Exklusivität pochen und in den Medien dankbare Abnehmer für Herz-Schmerz-Stories finden; und das, obwohl die Fremdgehquote von Männern und Frauen, soweit sie eingestanden wird, laut einer aktuellen SPIEGEL-Studie nicht gerade himmelweit auseinanderliegt. 47% zu 38%. Die Dunkelziffer dürfte nicht nur weitaus höher sein, sondern auch ein relativ ausgeglichenes Verhältnis aufweisen.

Der Gründer des Seitensprung-Portals ›Ashley Madison‹, Noel Biderman, hat ein paar goldene Sätze zu diesem Menschheitsthema, das ja schon in der Bibel vorkommt, von sich gegeben:

Biderman: Unsere Gesellschaft sollte weniger Wert auf Monogamie legen. Studien zeigen, dass Scheidungsraten für offene Ehen viel niedriger sind. Wer freier atmet, sich weniger einsam fühlt, mehr lacht und mehr Sex hat, ist ein glücklicherer Mensch. Und nörgelt vielleicht weniger. Moderne Beziehungen haben so viele Ansprüche: Du musst vertraut und aufregend sein, durchgeknallt, romantisch und zuverlässig, ein guter Vater, bester Freund und weltbester Liebhaber. Es kann sehr befreiend sein, nicht alles gleichzeitig für seinen Partner sein zu müssen.

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/noel-biderman-plant-seitenspruenge-und-ist-chef-von-ashley-madison-a-830225.html

Streben wir nun dem absoluten Höhepunkt der Aufklärung über die weibliche Sexualität zu: die lieferte der STERN 20/2012 vom 10.5.2012 mit seiner Titelstory: ›Mach mit mir, was ich will. Warum selbstbewusste Frauen von einer anderen Sexualität träumen.‹ An der linken Schulter der wollüstigen Frau mit Schmollippen prangte ein kleines STERN-Logo mit dem angeschlossenen Spruch: ›So sieht’s aus, Männer: wo ich bin, ist oben.‹ Will meinen: auch wenn ich mich unterwerfe, ist es meine Lust und mein Orgasmus. Denn eigentlich ist dem Blatt und seinen Journalistinnen das Thema zuwider. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber manchmal muß man eben auch als meinungsstarke Journalistin das real life zur Kenntnis nehmen, wenn die Chefs das verordnen.

Sage und schreibe sechs Journalistinnen haben an diesem Text der Titelstory gearbeitet: Christine Kruttschnitt und Carla Woter habe den Artikel geschrieben, Ulrike von Bülow, Irmgard Hochreither, Andrea Ritter und Stefanie Wilke haben recherchiert – es geht um Fessel-Sex, Gewalt, Kontrollverlust, Hingabe, Genuß. Eine Immobilienmaklerin, eine Beamtin, eine Lehrerin, eine Anwältin und eine Informatikerin kommen zu Wort, die Männer für einen ONS ›aufreißen‹, SM-Szenarien lieben, gewaltfrei dominiert werden wollen, Gäste ins ›Spielzimmer‹ hinzubitten, einen bisexuellen Mann zum Freund haben, dem sie zusehen, wenn er mit einem Mann zusammen ist – ›gefesselt‹, ›verspielt‹, ›hemmungslos‹ ›wehrlos‹ und ›mädchenhaft‹, so werden sie vorgestellt.

Nach dem feministisch daherkommenden Puritanismus-Export liefern die USA nun also einen neuen Trend, meinen die Autorinnen beklommen:

In Amerika feiert derzeit der pornografische Roman „Fifty Shades of Grey“ [von E. L. James] einer englischen Hausfrau und Mutter einen beispiellosen Erfolg – ein Buch, das von der Begeisterung einer jungen Frau für einen gewalttätigen Geschäftsmann und dessen sado-masochistischen Praktiken handelt. Mit diesem Buch wird im Sommer auch die Diskussion um feminine Unterwerfungsrituale nach Deutschland kommen.

(STERN 20/2012, S. 104).

Und so weichen sie erst einmal auf das harmlosere Thema der sexuellen Phantasie aus:

Bei Bettina Fürst ist es wie bei anderen auch: Ob auf Knien oder gegen die Wand, ob mit Fremden oder mit George Clooney, mit mehreren Männern und/oder Publikum – der beste Sex findet erstmal im Kopf statt.

Die Kurve ist genommen, wenn auch auf Kosten der zuvor präsentierten freien Frauen, die das leben, was nun als Phantasie abgehandelt wird. Puh, Schweiß auf der Stirn. Dann pirscht man sich an das Thema heran, indem man eine Kubanerin namens Jimena Martinez sagen läßt:

»Deutsche Frauen haben Angst davor, dass etwas sexistisch sein könnte. Ständig hinterfragen sie sich: Bin ich zu sehr Weibchen? Lasse ich mich als Objekt behandeln? Wenn man sich ständig selbst beobachtet – dann ist man doch nicht emanzipiert?«

Aha, da haben wir also nur ein deutsches Nationalproblem, das eine feurige Kubanerin selbstverständlich nicht hat. Das feministisch-ideologische Über-Ich, das viele Frauen hemmt, sich nach gusto gehen zu lassen, und viele Männer verunsichert, ob und wie man heutzutage denn noch flirten soll, ist damit elegant entsorgt. Aber es kommt noch besser: die hemmungslos leidenschaftliche Überwältigung, die Männern gern eine Anzeige wegen sexueller Nötigung beschert, wird durch die gleichartige Handlungsweise einer Frau zum Erweckungserlebnis:

Für Carola Struve war eine Frau das Schlüsselerlebnis. „Von einem Mann bin ich noch nie so krass angemacht worden wie damals von Hanna. Sie hat mich an der Garderobe gekrallt, mich an die Wand gedrückt, eine Hand an meiner Kehle. Einem Kerl hätte ich sofort eine gescheuert. Von ihr habe ich mich direkt auf die Toilette ziehen zu lassen. Ich war total überwältigt. Ich mochte das.“

Inzwischen spielt sie solche Situationen mit ihrem Freund durch. „Einer Frau konnte ich mich ausliefern. So habe ich entdeckt, dass mir Machtlosigkeit gefällt. Auch mit Männern. Als Spiel.«

(STERN 20/2012, S. 104f.)

Ja, die Autorinnen ringen sich sogar dazu durch, die Frage zu stellen, warum männliche Kunden von Dominas nie mit der Unterstellung konfrontiert werden, daß sich hierin ein typisch männliches Bedürfnis nach Unterdrückung äußere. In derlei kniffligen Lagen fragt man doch am besten einen Experten, hier die feministische Psychologin Marta Meana, die über diesen ›politisch unkorrekten Reiz‹, dem 30 – 60 % aller Frauen frönen sollen, folgendes sagt:

„weibliche Lust“ drücke sich laut ihren Studien am besten in folgendem Szenarium aus: von einem Mann in einem Hauseingang fast aufgefressen zu werden, ohne Rücksicht auf Zeugen, unter Wegfall sämtlicher Manieren. „Was Frauen wollen, ist ein echtes Dilemma: solchen Typen begegnen, aber nicht wirklich in Gefahr sein. Sie wollen einen Höhlenmenschen, der Rücksicht nimmt.

(STERN 20/2012, S. 106)

Unsere Autorinnen plagt das ideologische Über-Ich so sehr, daß sie an dieser Stelle noch einmal die Warntafel aufstellen:

Nun begehrt die weibliche Seele in ihrem tiefsten Inneren das, was schon der Höhlenmann wusste: „Stell dich nicht so an, du willst es doch auch!“ Oder? Nein! Nein heißt NEIN, immer und für alle Zeiten.

Bis SIE es sich anders überlegt jedenfalls. Denn leidenschaftlich begehrt zu werden ist der größte Kick.

Mit dem Feminismus, der den STERN seit vielen Jahren unterwandert hat, haben es sich die Autorinnen also nicht verdorben, und so können sie das interessante Detail liefern, daß das partnerschaftliche Verhältnis nicht die primäre Quelle weiblicher Lust sei, und daß Frauen in langjährigen Beziehungen schneller das Interesse am Sexualpartner verlieren als umgekehrt. Wie schon gesagt, die falsch verstandene Monogamie ist das Problem…

Aber dann sinkt der Artikel wieder auf typisches STERN-Niveau, wenn die Autorinnen sich vor den Talkshows gruseln, die nach Erscheinen des Buchs ›Shades of Grey – Geheimes Verlangen‹ Band 1, im Goldmann-Verlag im Juli zu erwarten seien.

Man kann sich schon die Talkshowrunden ausmalen, besetzt mit alarmierten Feministinnen und Psychologen, die darüber rätseln, weshalb Frauen gerade heute, da sie so intensiv an der Glasdecke kratzen, sich nach den Primaten sehnen.

Die Frauen sind immer noch zu bevormundende Geisteskranke und die Männer Tiere. Das alte feministische Klischee, das ohne Opfer und Feinde nicht existieren kann.

Dann noch ein paar Worte über den im Mainstream angekommenen BDSM-Schick, und schon werden in der Schlußkurve alte feministische Glaubenssätze in Stein gemeißelt, mit einer Frauke Werner aus Hamburg als Eideshelferin:

„Es kann sein“, sagt sie mit tapferem Lächeln, „dass es mal puff macht, so in 10, 15 Jahren, und dann finde ich ihn. Ich bin eben doch ein Scheißromantiker.“

(STERN 20/2012, S. 107)

Denn eigentlich, so wollen es die Axiome des Feminismus’, können Frauen Liebe und Sex nicht trennen, das können nur Männer, die daher auch keine Probleme haben, ihre Bedürfnisse bei Prostituierten zu befriedigen. Die im STERN interviewten Frauen behaupten das Gegenteil, und jede unkonventionell lebende Frau weiß, daß es Lust ohne Liebe gibt. Liebe ohne Leiden allerdings nicht…

Unsere Autorinnen machen es sich leicht: Zynismus und Beton sind nicht die Mittel, mit denen man solchen Lebensthemen begegnet. Aber offenbar waren sie froh, diese Pflichtaufgabe der Chefredaktion erledigt zu haben, ohne es sich mit ihresgleichen zu verscherzen. Sie agieren ja in einem stickigen Milieu der Mittelschicht, in dem man sich Freiheit verbietet und das auch noch ideologisch verbrämt. Das ist nicht emanzipiert, wie die reizende Kubanerin angemerkt hatte. Aber das Ducken unter der ideologischen Knute ist ja schon in Fleisch und Blut übergegangen… So also schließen unsere Autorinnen folgerichtig:

Aaah, die kühnste aller Frauenfantasien: wahre Liebe. Und der Vollständigkeit halber noch die wichtigste: Lohn- und Chancengleichheit. Das will das Weib.

Das ist nun wirklich voll daneben: wahre Liebe existiert genauso wie Lohn- und Chancengleichheit. Haben die Autorinnen auch unzulänglich gearbeitet, so ist es doch zu loben, daß man mal auf zwölf Seiten im STERN darüber, über die wahre Wildheit und Unkorrektheit weiblicher Sexualität, geredet hat.

Und nicht minder hat mir gefallen, daß der hervorgehobene Leserinnenbrief zu diesem Artikel im STERN 21/2012 von Sabine Kowalski aus Hamburg so lautete:

Es ist mir unbegreiflich, wie es heutzutage noch verwunderlich erscheinen kann, dass eine selbstbewusste Frau sich beim Sex gern unterwirft oder dass eine scheinbar schüchterne Frau im Bett den Ton angibt. Das hat weder mit Gewaltverherrlichung noch mit Emanzipation zu tun, sondern mit individuellen menschlichen Bedürfnissen.

So einfach kann Wahrheit sein. Aber das müssen Scheuklappen-Ideologinnen, die das Leben in seinen individuellen Façetten vor lauter Gender-Theoretisiererei nicht mehr in den Blick nehmen wollen, erst auf die harte Tour lernen. Schade, daß so viele Journalistinnen nicht mehr frei denken können. Daher in Großbuchstaben:

ES GIBT KEINEN POLITISCH KORREKTEN SEX. SEX IST INDIVIDUELLE FREIHEIT.

Es gibt nur Lust, die sich zu allen Zeiten nichts vorschreiben ließ. Alle Umerziehungsprogramme, ob sie Männer betreffen oder Frauen, sind zum Scheitern verurteilt. Es ist mehr Biologie im Spiel, als die Umerzieher wahrhaben wollen. Sie richten nur Schaden an.

Das Sahnehäubchen meines optimistischen Artikels ist der Passus eines Interviews mit der Sexologin (ja, da macht man Scheine und ein Examen und ist dann Expertin!) Ann-Marlene Henning.

Was Frauen wollen

Geschrieben von  Sigrun Friederike Priemer,

„Frauen wollen eingenommen werden“, sagt Sexologin und Psychotherapeutin Ann-Marlene Henning. Ein Gespräch über Männer und die Frage, was Frauen wirklich wollen.

Typisch Mann – gibt es das?

Es gibt im Wesentlichen zwei Sorten von Männern. Solche, die sich ihrer Männlichkeit sehr bewusst sind und sich damit wohl fühlen, und andere, unsichere Männer, die sich selbst noch nicht gefunden haben.

Der typische moderne Mann ist eher unsicher. Er denkt, ich will doch nett sein, ich will auf die Bedürfnisse meiner Partnerin achten. Solche Männer kommen in die Praxis, weil ihre Partnerinnen es möchten. Liebevolle Männer, die kommunizieren, die weinen können, die ihre Frau lieben, die aber deshalb ihre Frau sexuell nicht einnehmen können: sie empfinden ihre stoßende Männlichkeit, ihre bestimmende Männlichkeit, als negativ.

Aber genau das ist das Problem.

Der eigentliche Unterschied zwischen Mann und Frau besteht für mich nämlich darin, dass der Mann penetrierend ist. Er kann und sollte stoßen! Er kann eine Frau einnehmen. Nicht im bösen, sondern weil er ein Bedürfnis danach hat und weil Frau es auch möchte. Sie ist ja das Gegenstück zu ihm, sie möchte ihn in sich aufnehmen, ihn entgegennehmen. Wissenschaftler sprechen sogar von einem „Zelteffekt“ bei der Frau: Wenn sie sexuell erregt ist, zieht sich ihre Gebärmutter etwas nach oben, was von vielen Frauen als Bedürfnis empfunden wird „ausgefüllt zu werden“.

http://www.menscore.de/sex-orgasmus/sex/item/151

Soweit sind wir nämlich schon gekommen: daß die durch alberne akademische Diskurse, deren Täter-Opfer-Abklatsch es in den medialen Mainstream geschafft hat, in manchen Milieus geschaffene Verunsicherung bereits Natur ausgetrieben hat? Da schämen sich Männer wegen des natürlichen Akts, der ihnen die aktive Rolle zuschreibt, und Frauen müssen verleugnen, daß sie Hingabe genießen?

Ich sehe Licht am Ende des Tunnels.

Laßt uns Menschen doch einfach in Ruhe und moralisiert nicht, ihr Medienschaffenden und Ideologen. Das wäre doch die Lösung eines gar nicht existierenden Problems…

Hans Wollschläger: ›Das Gespenst‹

Heute vor fünf Jahren ist Hans Wollschläger gestorben.

Paul Ingendaay hob in seinem Nachruf eine ganz besondere Eigenschaft des Verstorbenen hervor:

http://www.asml.de/index.php/nachrufe-auf-hans-wollschlager/


Zum Tode Hans Wollschlägers

Der größte aller Diener

20.05.2007 ·  Obwohl er als eines der größten Talente unter den deutschen Schriftstellern galt, blieb er diesem Versprechen stets nur dicht auf den Fersen. Seine größten Erfolge feierte er als Übersetzer, auch des „Ulysses“. Jetzt starb Hans Wollschläger mit 72 Jahren.

Von Paul Ingendaay

Alle, die Hans Wollschläger kannten, aber auch alle, die über ihn redeten oder schrieben, mussten sich eingestehen, dass sie seinen Leidenschaften nur zum Teil – oft zum geringen Teil – folgen konnten. Kein anderer Name der deutschen Nachkriegsliteratur ist so fest an künstlerische Wahlverwandtschaften und bedingungslose Loyalitäten gebunden wie der Hans Wollschlägers. Einmal erwählt, war dem Objekt seiner Bewunderung lebenslange Treue sicher, die sich in hingebungsvoller philologischer Arbeit niederschlug.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zum-tode-hans-wollschlaegers-der-groesste-aller-diener-1438651.html?selectedTab=images&offset=0

Das ist schon rar in einer Zeit behender Vatermörder, kurzfristiger Literaturbetriebsskandale und schrumpfender Aufmerksamkeitsspannen. Schnelle Schnitte, verwackelte Bilder und Sternchen, die vom Himmel fallen.

Wollschläger schwankte zwischen Melancholie und Polemik angesichts dieses Kulturverfalls. Er beschwor die Bindungskräfte der Großen Kunst und arbeitete gegen die Vergänglichkeit an, kritisch und loyal zugleich.

Diese Thematik prägt bereits eine frühe Prosastudie, die 1961 an einem entlegenen Ort erschienen und seitdem verschollen war. Für die Freunde des Autors sei sie hier wiedergegeben.

Hans Wollschläger:

                                       Das Gespenst

 

Sein Leben war von geringer Durchsichtigkeit, sein Ende ohne Aufsehen. Die Notiz, die die Öffentlichkeit von beidem nahm, ist die Notiz einer Provinzzeitung: ein mechanisch gestikulierender Nachruf, den ein gutmütiger Kauz mit der Versicherung beschlossen hatte, man werde sein Andenken erhalten. Nachdem es sich nun auch auf Redaktionen herumgesprochen hat, daß ›Ewigkeiten‹ in unserer Zeitrechnung fragwürdig geworden sind, konnte man kaum mehr verlangen; ›unvergeßlich‹ nennt man Andere – und mit einigem Recht. Der Artikel hatte sich auf eine gewisse Ironie verstanden, wie es solchem Anlaß ziemt; der Lebenslauf war mit ein paar Karikaturen ausgestattet worden, die mitten ins – nicht ins Herz, ins Schwarze trafen; auch war davon die Rede, daß sein Leben Mühe und Arbeit – und also köstlich gewesen sei. Man versichert mir, daß es dagegen keinen Einspruch gebe. Da zudem meine eigene Kenntnis nicht zu einem Korrektiv hinreichte, nahm ich meine Stellung bei einem Kopfschütteln; im übrigen war ich genug vergeßlich, um mich kaum über eine Stunde hinaus damit behelligen zu lassen. Die Angelegenheit ist nunmehr zehn Jahre lang erledigt, und ich wurde nie mehr daran erinnert. Bis auf gestern …

»Mein lieber und einziger Freund –« … Es mag zu der genannten Ironie gehören, daß man gelegentlich solche Briefe schreibt. Daß man sie mit gleicher Leichtigkeit auch empfängt, schien mir bislang ganz in der Ordnung zu sein. Man liest sie entsprechend, mit einigem Lächeln oder Argwohn, je nach dem Grad der erworbenen Lebenstüchtigkeit, und legt sie dann irgendwo ab und vergißt. Man hält viel auf Vergeßlichkeit, wenn man auf ein gutes Gewissen hält. Aber dergleichen Ablagen haben etwas Heimtückisches. Da gerät man plötzlich einmal in einen Tag hinein (einen Tag wie im – sagen wir des Scherzes halber – April), wo ein Irgendwer die Zukunftsfenster mit schäbigen Regenfetzen verhängt hat und die Gedanken auf allerlei Abseitswegen herumtreibt (nach Rückwärts viel, wie es der Einwand gegen den notorischen Fortschritt gelegentlich will): da kramt man dann in alten Sachen herum und findet, mit zögernder Überraschung, einen … jedenfalls, ich fand seinen Brief gestern abend, beim Aufräumen, besah ihn überrascht, wollte ihn wieder beiseite legen, zögerte aber, las ihn dann doch – und schwankte eine bequeme Weile lang zwischen guter und schlechter Laune – (es gehört zu der zweimal genannten Ironie: wenn Jemand mich ›lieber Freund‹ nennt, fällt mir ziemlich bald ein, daß ich selber kein Geld habe; und gegen ›einzige Freunde‹ war ich von jeher mißtrauisch).

Ich bin vergeßlich genug, um nicht mehr genau zu wissen, ob und wie ich seinen Brief beantwortete. Ich habe gutes Gewissen genug, um bei dem Gedanken, ihm die erbetene Unterstützung verweigert zu haben, mich nicht anders als behaglich zu fühlen. Mit einigem Recht; der Brief ist vom 16.4.51 datiert; damals hatte ich selber nichts. Daß er eine Woche später starb, geschah nach Gottes heiligem Willen, wie die Annonce versicherte. Mag es also eine Sentimentalität sein, daß ich heute über seinem Brief noch einmal ins Nachdenken geraten bin; sie ist weder durch den Inhalt noch durch die Darstellung gerechtfertigt (diese bleibt kaum mehr als ein Witz, zumal orthographisch); man pflegt Bittgesuche nun einmal mit rührenden Lebensläufen zu versehen, jeder Beruf verlangt das, auch der des Bettlers. Aber ich muß die Sache aus dem Kopf haben und schreibe darum den Inhalt hier auf, um wenigstens diesen Teil zu erledigen –, in der gebotenen Kürzung natürlich, wie es solchem Anlaß ziemt …

Geboren wurde er in einem evangelischen Pfarrhaus. Er wuchs auf, wie man in Pfarrhäusern aufwächst, plagte sich durch das höhere Schuljahrneunt, verließ dann, nachdem man ihm die erworbene Lebensreife schriftlich bescheinigt hatte, die Stadt – (machen Sie drei Kreuze) und begann sich zur Rechtsgelehrsamkeit zu bequemen. Darin brachte er es bis zum Assessor, behandelte so ziemlich alle Fälle vom ersten bis zum letzten Willen, redigierte Steuersachen, machte ein paar Auslandsreisen (auf einer davon lernte ich ihn kennen – in London), trat von einer Religion zur andern über und gewann so alle schätzbaren Eigenschaften der Polytropie. Seine Bildung gelangte über den Durchschnitt: er las regelmäßig Bibel, Priapeia und Kamasutram und erklärte den Don Quixote für sein Lieblingsbuch, ohne ihn freilich verstanden zu haben (meine ich). Als er alle Garantien für eine bestbürgerliche Lebensführung beisammen hatte, arbeitete er vier Jahre lang an dem Entwurf zu einer Revision des Strafgesetzbuches; ich kam damals öfter mit ihm zusammen und erinnere mich dunkel längerer Gespräche über den Gegenstand – (er übertrieb seine Anstrengungen ziemlich: so, glaube ich, stellte er einmal die groteske Behauptung auf, die abendländische Ethik habe den Begriff der Toleranz auch praktisch zu üben; auf dieser Basis wollte er den Begriff ›Ärgernis‹ aus dem StGB völlig eliminieren –, gewiß auch ein Grund, daß er nirgends ernst genommen wurde). Als der Staat ihm durch die Inflation von heute auf morgen sein Vermögen genommen hatte, muß etwas Absonderliches in seinem Kopfe vorgegangen sein. Die Angaben sind unklar; bekannt ist mir nur, daß er im folgenden eine Art Sekte gründete, die einigen Zulauf hatte und vor anderen zumindest den Vorteil besaß, daß sie keinen Zehnten erhob. Aber gerade das versagte dem Unternehmen längere Dauer, und nachdem auch die Gründung einer Wochenzeitschrift, die in ihrer politischen Tendenz weder Regierung noch Opposition Ruhe ließ und zwangsläufig gegen jeden guten Geschmack ging, fehlgeschlagen war, zog er als eine Art Vortragsreisender (Wanderprediger heißt es in dem Brief) ein ganzes Jahrzehnt lang durch Deutschland und experimentierte die merkwürdigsten Methoden, die Welt, oder zumindest Deutschland, zu bessern und zu bekehren. Weniger war es jedoch die geringe Anerkennung, die er fand, als vielmehr die fortschreitende Trübung seines Urteils, die ihn zu immer betriebsamerer Betätigung veranlaßte, und da er sich grobe Ungeschicklichkeiten zuschulden kommen ließ, war damals bereits vorauszusehen, welches Ende sein Wirken nehmen mußte. Durch das Schicksal eines (einzelnen! – man bedenke!) jüdischen Freundes frühzeitig gegen das Dritte Reich eingenommen, protestierte er ungebührend laut gegen den Abschluß des Konkordates; zwei ganze Seiten des Briefes versuchen mir zu erklären, warum er dem Urteil des Papstes, das die national-sozialistische Regierung Deutschlands sanktionierte, nicht das Vertrauen schenkte, das ihm gebührte. Sein Sinn für Realität trübte sich mehr und mehr. Als die Judenbekämpfung in den nächsten Jahren immer systematischer betrieben wurde, hatte er plötzlich die Torheit begangen, noch einmal öffentlich seine Stimme zu erheben und zum Zeichen, daß Gott solche Greuel nicht zulassen könne (ein Problem, über das sich auch sehr vernünftige Köpfe die Köpfe zerbrochen haben), ein Wunder tun wollen. Das war ihm nun allerdings mißlungen, und zwar aufs gründlichste: er hatte vom zweiten Stock eines Justizgebäudes durch die Luft, lediglich von Engelsflügeln getragen, auf den Marktplatz niedersteigen wollen –; wenn irgendetwas von einem Wunder dabei war, so höchstens das, daß er überhaupt mit dem Leben davon kam. Aber er war nun zum Krüppel geworden und wurde, da er dem Gauleiter von Bayern die Wahrheit gesagt hatte, zudem in eine Anstalt gewiesen, aus der man ihn erst kurz nach Kriegsende als harmlosen Irren wieder laufen ließ. Damals sah ich ihn zum erstenmal wieder: einen alten Mann auf Krücken, wortkarg und fahrig, aber von einer völlig unerklärlichen Heiterkeit in den Augen, die mir oft unheimlich erschien, nahezu gefährlich – (es mag dies Grund und Entschuldigung dafür sein, daß ich mich gleich wieder von ihm zurückzog). Bei dem großen Angriff auf Dresden am 13.2.45 war ein begüterter Verwandter gestorben, und ein Zufall wollte es, daß ihm ein größeres Vermögen zufiel. Kaum konnte er darüber verfügen, so gründete er in – (machen Sie drei Kreuze) ein Heim für gefallene Mädchen und begann die Moral der Stadt in einer Weise zu heben, die allgemein lästig wurde. Nachdem also auch dies gescheitert war, versuchte er es mit einem Geschäftsunternehmen (Strickwaren); es ist kaum erklärlich, warum der wirtschaftliche Aufstieg jener Jahre ihm den völligen Bankrott einbrachte. Einige Zeit ging es ihm dann sehr schlecht, er schien lebensmüde zu werden, und eine gewisse (krankhafte) Melancholie ließ ihn den Neuaufbau seines Vaterlandes nicht in der Weise sehen, die wünschenswert war. Im hohen Alter geriet er, der ehemalige Jurist, sogar noch mit dem Gesetz in Konflikt: ein amerikanischer Mormone hatte ihn bekehren wollen und war nach hartnäckigen aber fruchtlosen Argumenten von ihm mittels eines Faustschlags bedeutet worden, davon endgültig abzulassen. Das brachte ihn nun allerdings in heftige Ungelegenheiten, und nicht zuletzt auf Grund dieser letzten Erfahrung ging es mit ihm schneller dem Ende zu, als man hätte erwarten sollen …

Gesehen habe ich ihn nicht mehr. Aber als ich jetzt in seinem letzten Brief las, saß er auf einmal wieder leibhaftig vor mir – (ein Gespenst?): weißhaarig und zwergenhaft, immerfort bedächtig nickend, immerfort das gleiche faltige Lächeln um die wirren Augen, aus denen der Zwiespalt von Gram und Spott nie gewichen war … Es mag zu der dreimal genannten Ironie gehören, daß die Zeitungsnotiz recht behält. Ich gebe ihr recht. Ich habe seinem Andenken Genüge getan, indem ich von ihm berichtete. Wenn ich zuvor einen Augenblick lang glaubte, ihm darüberhinaus etwas schuldig zu sein, so verstand sich das gewissermaßen aus dem Eindruck der Anrede im Brief, die mich verwirrte. Dergleichen hat etwas Heimtückisches, von dem man am besten gar keine Notiz nimmt, nicht einmal vielleicht eine Zeitungsnotiz. Der Brief kommt zurück in die Ablage und wird vergessen … (– für die nächsten zehn Jahre –: vielleicht gerate ich dann plötzlich wieder einmal in einen Tag hinein (einen Tag wie im – sagen wir des Scherzes halber – April), wo ein Irgendwer die Zukunftsfenster mit schäbigen Regenfetzen … und die Gedanken … und krame in alten Sachen herum … und finde einen Brief mit der Anrede »Mein – – –«) … Schluß.

Anmerkungen von Monika Wollschläger:

Das Gespenst: Die Titelfigur trägt Züge von Hans Wollschlägers Freund Conrad Stromenger (Ps. A. W. Conrady). Die handschriftliche Widmung des Autors auf der Titelseite seines Roman-Typoskripts ›Herzgewächse oder Der Fall Adams. Fragmentarische Biographik in unzufälligen Makulaturblättern. Band I‹ lautet: »Ich schulde dieses Buch dem Andenken zweier meiner Freunde einer ganz vertrackten Schuldigkeit gegenüber den Freunden Alfred Giesler (geb. 3.11.1903, † 4.4.1954) und Conrad Stromenger (geb. 31.7.1889, † 24.2.1960)«.

Das Gespenst: Erstveröffentlichung in: ›die therapie des Monats‹ 7, 1961, C. F. Boehringer & Soehne GmbH, Mannheim, S. 258-260, Oktober 1961. Rudi Schweikert, Mannheim, stellte freundlicherweise aus seinem Archiv eine Kopie dieser ersten (und einzig erhalten gebliebenen) Erzählung Wollschlägers zur Verfügung, die der Autor in seinem Archiv nicht aufbewahrt hat.

Mit Dank an Monika Wollschläger für die Genehmigung der Veröffentlichung.

(Hans Wollschläger in Dörflis, Oktober 2005; Foto: Gabriele Wolff)

Zweifellos war die Publikation seinerzeit Hansotto Hatzig, Mitarbeiter der Presseabteilung der Boehringer Werke, zu verdanken.

Rudi Schweikert über Hansotto Hatzig:

http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/seklit/JbKMG/2002/9.htm

Hatzig selbst war ein langjähriger Wegbegleiter in Sachen Karl-May-Forschung – wie überhaupt Karl May der Punkt ist, in dem sich viele Linien schneiden. Die Beziehung zwischen Hans Wollschläger und Arno Schmidt begann 1957 mit einem Leserbrief Wollschlägers an die FAZ, in dem er Kritik an einem Schmidt-Aufsatz über Karl May äußerte. A. W. Conrady schließlich kritisierte in einer Arbeit für den Karl-May-Verlag Arno Schmidt – und wie sehr Hans Wollschläger bemüht war, trotz eindeutigen Standpunkts in diesem Konflikt beiden gegenüber loyal zu bleiben, wird der Briefband erhellen…

Update (20.5.2012)

Dieser Buch-Empfehlung im Börsenblatt kann ich mich nur anschließen:

Alfred-Kerr-Preisträger empfehlen

 

Ulrich Weinzierl (Die Welt)
Ulrich Weinzierl, geboren 1954, promovierte über Alfred Polgar und lebt als Autor, Journalist und Literaturkritiker in Wien. Er schreibt unter anderem für die »Welt«. Er ist der Kerr-Preisträger von 2001. 2009 wurde ihm der Preis der Frankfurter Anthologie übergeben.

[…]

 

Hans Wollschläger, Wie man wird, was man ist. Sinfonietta Domestica für Kammerorchester
Wallstein, 382 Seiten, 28,00 EUR, ISBN: 978-3-8353-0497-0
Dieses Buch ist ein Glücksfall, die Chance, den viel zu wenig gekannten, kompromisslosen Sprachkünstler in seinen persönlichsten Texten und Reden zu erleben. Literatur und Musik, das war Wollschlägers Welt, in die er uns profunde Einblicke gewährt: Ecce poeta!

http://www.boersenblatt.net/293043/