Wiederaufnahmeverfahren im Fall Peggy: Dekonstruierung einer Konstruktion

12-05-07 Vergänglichkeit 4Heute beginnt das Wiederaufnahmeverfahren von Ulvi Kulac, der im Jahr 2004 vom Landgericht Hof zu Unrecht wegen Mordes der am 7.5.2001 verschwundenen 9-jährigen Peggy Knobloch aus Lichtenberg verurteilt worden ist. Das kann man deshalb so wuchtig sagen, weil es damals wie heute weder einen Beweis für ein Tötungsdelikt an jenem Tag noch für eine Täterschaft des geistig behinderten Ulvi Kulac gab und gibt. Wer von dem Fall noch nie etwas gehört hat, dem empfehle ich einen ersten Überblick anhand dieses Artikels:

Mordfall „Peggy Knobloch“

Viele Zweifel an einem zweifelsfreien Urteil

17.03.2013  ·  Im Mai 2001 verschwand die neunjährige Peggy Knobloch spurlos. Eine Leiche wurde nie gefunden, dennoch verurteilte das Landgericht Hof den geistig behinderten Ulvi Kulac wegen Mordes. Nun will sein Anwalt beweisen, dass er unschuldig ist.

Von David Klaubert

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/mordfall-peggy-knobloch-viele-zweifel-an-einem-zweifelsfreien-urteil-12118132.html

Welches Ergebnis das Wiederaufnahmeverfahren haben muß, geht es dort rechtsstaatlich einwandfrei zu, steht bereits fest: eine Staatsanwaltschaft Bayreuth, die einerseits seit 2012, getrieben von den Medien, neue Ermittlungen zur Aufklärung des Falls Peggy aufgenommen hat, alte, nie ausermittelte Spuren der Soko Peggy II aufnehmend, kann andererseits in der neuen Hauptverhandlung nicht volltönend ihre Überzeugung von der Schuld des Ulvi Kulac vertreten. Auch dann nicht, wenn sie ihren engagierten ergebnisoffenen Ermittler, Oberstaatsanwalt Dr. Ernst Schmalz, kurz vor Prozeßbeginn öffentlich als überengagiert darstellte und ihren Experten auch als Sitzungsvertreter im Wiederaufnahmeverfahren aus dem Rennen nahm. Auf eigenen Wunsch selbstverständlich.

Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Bayreuth vom 2. April 2014

Seit Mitte 2012 ermittelt die Staatsanwaltschaft Bayreuth unabhängig vom Wiederaufnahmeantrag des Angeklagten Ulvi K. im Zusammenhang mit dem Verschwinden der damals 9-jährigen Peggy K.

In einem der entsprechenden Verfahren wurde in einer Vernehmung dem Wunsch des dortigen Verdächtigen nach Hinzuziehung eines Verteidigers in prozessual angreifbarer Weise nicht entsprochen. Der bisher mit der Sache betraute Staatsanwalt hat dies im Nachhinein erkannt und um seine Entbindung gebeten.

Um bestmöglich zu gewährleisten, dass auch das Wiederaufnahmeverfahren im Fall Peggy“ frei von jeglichen Belastungen ist, hat der bislang zuständige Staatsanwalt dort ebenfalls darum gebeten, einen anderen Staatsanwalt mit der Sachbearbeitung zu beauftragen. Dem ist nachgekommen worden.

Es wird um Verständnis dafür gebeten, dass dazu keine weiteren Einzelheiten bekannt gegeben werden können.

Im Wiederaufnahmeverfahren hinsichtlich Ulvi K. nehmen Frau Staatsanwältin als Gruppenleiterin Sandra Staade und Herr Staatsanwalt als Gruppenleiter Daniel Götz die Sitzungsvertretung wahr.

http://www.justiz.bayern.de/sta/sta/bt/presse/archiv/2014/04329/index.php

Wenig wahrscheinlich, daß sich die neuen Sitzungsvertreter in dem Aktenmaterial, das schon vor Stellung des Wiederaufnahmeantrags knapp 14.000 Seiten betrug, so zurechtfinden werden wie der versierte Oberstaatsanwalt.

Er hat das Wiederaufnahmeverfahren befürwortet und die neuen Ermittlungen im Fall Peggy vorangetrieben: der Bayreuther Oberstaatsanwalt Ernst Schmalz. Am Mittwoch wurde er überraschend ausgetauscht, um den neuen Prozess „frei von jeglichen Belastungen“ zu halten, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Bei einer Vernehmung habe Schmalz einem Verdächtigen den Anwalt vorenthalten, so die Begründung, und deshalb um seine „Entbindung“ gebeten. Bei Prozessbeobachtern sorgt die Auswechslung kurz vor Verfahrensbeginn für große Verwunderung. Den engagierten Ermittler jetzt aus dem Verkehr zu ziehen, sei ein Skandal, sagt einer.

http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.das-verschwundene-maedchen-peggy-auf-ein-neues.8d59755f-f473-4330-93dd-38c042786d8a.html

Das kann man durchaus so sehen. Ulvi Kulac hat jedenfalls einen Verteidiger verloren. „Gruppenleiter“ bei den bayerischen Staatsanwaltschaften sollen übrigens, so wird gemunkelt, auf einem Karrieresprungbett stehen, das ihnen in der Regel eine Beförderungsstelle in der Richterschaft verschafft.

Die Wiederaufnahmeentscheidung hat das Landgericht Bayreuth so begründet:

Landgericht Bayreuth ordnet Wiederaufnahme des Strafverfahrens im Fall „Peggy“ an

Die 1. Jugendkammer des Landgerichts Bayreuth hat mit Beschluss vom 09.12.2013 die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im Fall „Peggy“ angeordnet. Damit kommt es gegen den am 30.04.2004 vom Landgericht Hof wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Ulvi K. zu einer neuen Hauptverhandlung. Der Angeklagte befindet sich derzeit wegen anderer Taten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Diese Unterbringung ist von der heutigen Entscheidung nicht betroffen.

Die Jugendkammer stützt sich auf zwei Gründe, welche die Wiederaufnahme notwendig machen.

So habe sich ein – zwischenzeitlich verstorbener – Zeuge mit seiner Aussage vor dem Landgericht Hof einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage zu Ungunsten des Angeklagten schuldig gemacht. Dieser Zeuge hat seine Falschaussage im Jahr 2010 vor dem Ermittlungsrichter eingeräumt. Es könne auch nicht sicher ausgeschlossen werden, dass die Aussage dieses Zeugen auf die Urteilsfindung Einfluss hatte. Die Aussage dieses Zeugen habe auch als Tatsachengrundlage für das seinerzeitige psychiatrische Sachverständigengutachten gedient.

Als weiteren Grund für die Wiederaufnahme führt die Jugendkammer das Vorliegen einer sogenannten Tathergangshypothese vom 30.04.2002 an, welche dem Gericht in Hof nicht bekannt gewesen sei. Diese Tathergangshypothese sei erheblich, weil der Sachverständige, der im Verfahren vor dem Landgericht Hof die Glaubhaftigkeit der Geständnisse des Angeklagten zu beurteilten hatte, ausgeschlossen habe, dass deren Inhalt ihm durch vernehmende Kriminalbeamte suggeriert worden sei. Der Sachverständige begründete dies damit, dass den Beamten selbst zum Zeitpunkt der Geständnisse am 02.07.2002 ein hypothetisches Tatszenario gefehlt habe, das sie dem Angeklagten hätten vorhalten können. Eine solche Tathergangshypothese hat es aber, wie sich im Wiederaufnahmeverfahren herausgestellt hat, tatsächlich gegeben. Auf die weiteren von der Verteidigung vorgetragenen möglichen Wiederaufnahmegründe kam es nicht an.

http://www.justiz.bayern.de/imperia/md/content/stmj_internet/gerichte/landgerichte/bayreuth/peggy_13_12_09_pressemitteilung.pdf

Eine bemerkenswert mutige Entscheidung, denn sie zielt in medias res eines konstruierten Verfahrens: die Polizei hatte einen Spitzel auf den bereits im BKH untergebrachten Ulvi Kulac angesetzt, Peter Hoffmann, der dort ebenfalls untergebracht war und der sich Vorteile erhoffte, wenn er der Polizei vorlog, Kulac habe ihm gegenüber ein Geständnis abgelegt. Dieses angebliche durch Hoffman kolportierte Geständnis von Kulac war wiederum Grundlage der Tathergangshypothese der Polizei. Jedenfalls in dem Vernehmungskonzept der durch den Innenminister Günther Beckstein unter Erfolgsdruck gesetzten, seit Februar 2002 neuformierten Soko Peggy II unter der Leitung von Wolfgang Geier, die vorwiegend auf Geständniserwirkung bedacht war.

Die Staatsanwaltschaft Bayreuth hatte sich dem Wiederaufnahmeantrag der Verteidigung zwar angeschlossen, allerdings eine andere, gesichtswahrende, Begründung gewählt:

Presseerklärung der Staatsanwaltschaft Bayreuth vom 20.11.2013 zum Fall Peggy

Die Staatsanwaltschaft Bayreuth hat nach eingehender Überprüfung am 20. Nov. 2013 dem Landgericht Bayreuth ihre Stellungnahme zum Wiederaufnahmeantrag des Verurteilten Ulvi K. vom 03./19. April 2013 vorgelegt.

Zumindest einer der im Antrag des Verurteilten vorgebrachten Punkte – nämlich die Benennung einer Zeugin, die dem damals erkennenden Landgericht Hof nicht bekannt war – könnte nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Bayreuth die Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich der Verurteilung wegen Mordes an Peggy Knobloch rechtfertigen.

Zu Einzelheiten können vor einer Entscheidung durch das Landgericht Bayreuth keine weiteren Erklärungen abgegeben werden.

http://www.justiz.bayern.de/sta/sta/bt/presse/archiv/2013/04132/

Nun ist unbekannt, welche Zeugin die Staatsanwaltschaft dabei im Visier hatte; schließlich gibt es zahlreiche Zeugen und Zeuginnen, die Peggy nach der vom Gericht „festgestellten“ Tötung durch Ulvi Kulac am 7.5.2001 bis 13:45 Uhr gesehen oder gesprochen haben. Aber die Präsentation von neuen Beweismitteln ist immer geeignet, das ersturteilende Gericht zu entlasten…

Man war also guten Mutes, was das Wiederaufnahmeverfahren anging. Bis diese Nachricht hineinplatzte:

Neuer Prozess, alter Gutachter Fall Peggy: Schock-Nachricht für Ulvi K.

Helmut Reister, 14.01.2014 12:21 Uhr

[…]

Ein Skandal?

Für die Jugendkammer des Landgerichts, wo der neue Prozess gegen Ulvi im April starten wird, stellt der Berliner Universitätsprofessor als Gutachter kein Problem dar. „Er hat den gerichtlichen Auftrag bekommen, sein früheres Gutachten zu ergänzen“, erklärt Behördensprecher Thomas Goger die juristische Ebene.

Irgendwelche Interessenskonflikte oder mögliche Befangenheitsgründe sind für ihn nicht erkennbar: „Er hat damals sein Gutachten auf der Grundlage objektiv unzureichender oder falscher Vorgaben gemacht und kann das jetzt berücksichtigen.“

Für Rechtsanwalt Michael Euler, der Ulvi K. vertritt und den neuen Prozess durchgesetzt hat, stellt sich die erneute Beauftragung Kröbers als Gutachter wesentlich komplizierter dar. „Mein erster Gedanke war, sofort einen Befangenheitsantrag zu stellen, als ich das gehört habe“, sagt Euler.

Nach der Schock-Nachricht will er seinen Worten zufolge erst einmal abwarten, zu welchen Ergebnissen der psychiatrische Sachverständige diesmal kommt –  und erst dann entscheiden, wie es weiterläuft.

Skeptisch, sagt Euler, bleibe er auch deshalb, weil er Zweifel an der handwerklichen Qualität des ersten Gutachtens bestünden. Er könne dies auch belegen.

http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.neuer-prozess-alter-gutachter-fall-peggy-schock-nachricht-fuer-ulvi-k.c2ea9834-3aec-445a-86a1-ba6a596eb168.html

Wie wahr. Der Psychiater Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber hatte die zweifelhaften Geständnisse von Juli 2002 trotz fehlender Kompetenz als Aussagepsychologe und unterbliebener Wertung polizeilicher Vernehmungsmethoden im Ergebnis so gewürdigt:

Zusammenfassend sprechen die zu prüfenden aussagepsychologischen Gesichtspunkte im Falle von Herrn Kulac gegen die Nullhypothese, dass das in seinen Geständnissen dargestellte Geschehen unwahr, z.B. von ihm erfunden ist oder ihm suggeriert wurde und mithin für die Annahme, dass diese Angaben in tatsächlichem Erleben begründet sind.

[S. 124 f. seines Gutachtens vom 19.10.2002]

Diese bloße Annahme reichte dem Landgericht Hof für eine Verurteilung von Ulvi Kulac aufgrund seines widerrufenen Geständnisses aus.

Das Landgericht Bayreuth, das diesen Gutachter zur „Ergänzung“ seiner Expertise unter Zugrundelegung des Vernehmungskonzepts der Soko Peggy II beauftragte, ging offenbar davon aus, es mit einem unbefangenen Gutachter zu tun haben, der zur Selbstkorrektur angesichts neuer Sachverhalte fähig ist.

Nun bilden womöglich Richter eine Berufsgruppe, die nicht besonders internetaffin ist – aber es lohnt sich manchmal, sich im Internet zu informieren. Der Journalist Christoph Lemmer, Co-Autor von Ina Jung („Der Fall Peggy. Die Geschichte eines Skandals“, Droemer 2013, ein Buch, in dem exakt jene polizeiliche Geständnisproduktion nach dem rechtlich bedenklichen Reid-Verfahren und die angebliche Unkenntnis des Gutachters Kröbers von der Tathergangshypothese thematisiert wurde), hat bereits am 12.12.2013 offenbart, wie emotional-voreingenommen Kröber auf bloße kritische Nachfragen zu seinen Peggy-Gutachten reagiert.

Warum sich der Fall #Peggy zum Debakel für Psychiatrie-Gutachter #Kröber entwickelt

[…]

Ich habe auch versucht, Kröber selbst zu einer Stellungnahme zu bewegen, und zwar erstmals im April 2012. Da hatte Rechtsanwalt Michael Euler gerade erst mit der Arbeit an seinem – nunmehr erfolgreichen – Wiederaufnahmeantrag begonnen. Ich wollte von Kröber wissen, wie er angesichts der wachsenden Zweifel am Mordurteil gegen Ulvi Kulac zu seinem Gutachten stehe. Er antwortete:

Sehr geehrter Herr Lemmer,
dieser Rechtsanwalt Michael Euler, nicht zu verwechseln mit dem renommierten Rechtsanwalt Wolfgang Euler, hat mich schon vor mehr als einem Jahr “zwecks Wiederaufnahme” mit vermeintlich neuen Erkenntnissen konfrontiert, von denen jedes einzelne im Prozess in Hof lang und breit erörtert und geklärt worden ist.
Die Verschwörungstheoretiker verschweigen übrigens alle, dass Ulvi unstreitig Peggy am Donnerstag vor der Tat am Montag massiv vergewaltigt hatte und vorher bekanntermaßen andere Kinder des Ortes sexuell missbraucht hatte.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Kröber

http://www.bitterlemmer.net/wp/2013/12/12/peggy-justizirrtum-fehlurteil-kroeber-mollath-gutachten-psychiatrie-wiederaufnahme-bayreuth-lichtenberg/

Aus seiner subjektiven Sicht müßten mithin jetzt auch die Staatsanwaltschaft und das Landgericht Bayreuth zu „Verschwörungstheoretikern“ mutiert sein, und, wie auch im Fall Mollath, in dem er bei seiner Verteidigung seines bayernfreundlichen Bestätigungsgutachtens feuilletonistisch zu Werke ging, weist er bei dieser Replik bedenkliche Gedächtnislücken auf *. Von einer „unstreitigen massiven Vergewaltigung“ Peggys durch Ulvi Kulac kann nämlich keine Rede sein, wie er wissen muß. Kröber selbst hat in seinem Gutachten die beiden Varianten des „Geständnisses“ von Ulvi Kulac aufgeführt:

Ulvi Kulac hatte einen schweren sexuellen Mißbrauch der Peggy, begangen am Donnerstag, dem 3.5.2001, in einer Vernehmung am 06.09.2001 gestanden. Bei einer weiteren Beschuldigtenvernehmung zu diesem Thema am 24.06.2002 hatte er, wie auch nachher immer wieder, betont, daß er mit seinem Glied nicht in Scheide oder Anus des Mädchens gewesen sei, sonden dieses zwischen ihren Pobacken auf- und nieder bewegt habe.

[S. 6 des Gutachtens]

Ihm gegenüber hat Ulvi Kulac konstant die zweite Variante aufrechterhalten.

Ulvi Kulacs überaus fragwürdiges und aktuell bestrittenes „Geständnis“, was die Tat vom 3.5.2001 zum Nachteil Peggys angeht – sie weicht von den niedrigschwelligeren sonstigen Sexualdelikten, die durch Zeugenaussagen von ausschließlich männlichen Kindern belegt sind, auffällig ab – ist vom Landgericht Hof in seinem nun wegen der Mord-Verurteilung hinfälligen Urteil vom 30.4.2004 als „Tatsache“ im Sinn des zweiten und der späteren Geständnisse „festgestellt“ worden.

In der Beweiswürdigung zur Geständnisqualität heißt es dort:

Im Fall B V. 4. schilderte der Angeklagte in der Hauptverhandlung das Geschehen gleichfalls in sich widerspruchsfrei in einem stimmigen, zeitlichen, räumlichen und situativen Zusammenhang mit hohem Grad an Konkretisierung und Detaillierung sowohl hinsichtlich des Kerngeschehens als auch des Rahmengeschehens: So bekundete er zum Rahmengeschehen, es sei am Donnerstag gewesen. Das sei der Donnerstag vor dem Verschwinden von Peggy gewesen. Peggy habe am Nachmittag ans Fenster seiner Wohnung geklopft, es sei das linke der beiden Fenster gewesen. Er habe aufgemacht, sie reingelassen, sie hätten sich unterhalten und play-Station gespielt. Zum Geschehen nach den Vorfällen bekundete der Angeklagte, Peggy habe geheult, sie habe raus rennen wollen. Er habe zu ihr gesagt, sie solle sich anziehen. Sie habe sich angezogen und er habe sie gefragt, ob sie so einen Brauereilaster habe, wie er sie sammele. Sie habe gesagt, sie habe so einen und habe einen gebracht. Das sei aber nicht der Richtige gewesen, sondern ein „orangener Straßenbaulaster“.

[UA, S. 22 f.]

Über die Plausibilität einer solchen Nachtat-Schilderung möge jeder selbst urteilen. Für unvoreingenommene Betrachter, die ein Motiv für einen  Verdeckungsmord nicht benötigen, hat dieses Geständnis jedenfalls den Anschein, als sei ein sexueller Vorgang lediglich in einen typischen Alltagsbesuch eingebaut worden.

Erschwerend kommt hinzu, daß eine faktische Überprüfung des „Geständnisses“, wie es Gerichten auferlegt ist, nicht stattgefunden hat. Gudrun Röbel, Ulvi Kulacs rührige Betreuerin, hat aus den Akten den Tagesablauf Peggys am 3.5.2001 rekonstruiert: es kann praktisch ausgeschlossen werden, daß Peggy den Beschuldigten Kulac am Nachmittag des 3.5.2001 besuchte und daß es hier zu einem sie belastenden Geschehen kam.

http://www.ulvi-kulac.de/prozess.html

Prof. Kröber scheint bei seiner Antwort an Christoph Lemmer auch auszublenden, daß Ulvi Kulac entsprechend dem psychiatrischen Gutachten von Prof. Nedopil wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit bezüglich der Sexualdelikte freigesprochen und gegen ihn die Maßregel gemäß § 63 StGB verhängt wurde.

Diese Minderbegabung des Angeklagten mit der darauf fußenden Retardierung im psychosozialen und psychosexuellen Bereich ist den Ausführungen des Sachverständigen Professor Dr. Nedopil zufolge als Schwachsinn im Sinne des § 20 StGB zu qualifizieren.

[UA S. 117]

Daß Kröber zu dieser Wertung im psychiatrischen Teil seiner Beurteilung der Aussagetüchtigkeit nicht gelangte, versteht sich von selbst.

Am 2.4.2014 lancierten Ina Jung und Christoph Lemmer folgendes:

Zeitgleich haben am Mittwoch zwei Journalisten schwere Vorwürfe gegen den Vorsitzenden Richter Michael Eckstein erhoben. Die Autoren Christoph Lemmer und Ina Jung, die ein vieldiskutiertes Buch über den Fall geschrieben haben, erklärten in einer Pressekonferenz in Bayreuth, ihnen lägen Informationen vor, wonach der Richter in einem Telefongespräch mit dem Berliner Gerichtspsychiater Hans Ludwig Kröber „diskutiert“ habe, zu welchem Ergebnis ein von Kröber zu erstellendes Gutachten über die Glaubwürdigkeit des wegen des Mordes an Peggy verurteilten Ulvi K. kommen solle.

„Mehr oder weniger frei erfunden“

Kröber war im ersten Peggy-Prozess vor dem Landgericht Hof zu dem Ergebnis gekommen, das von Ulvi K. später widerrufene Geständnis sei glaubwürdig. Dafür, so Kröber damals, spreche auch, dass die Polizei kein Szenario über den Tathergang gehabt habe, mit dem sie Ulvi hätte konfrontieren und so sein Geständnis beeinflussen können. Dass es ein solches Tatszenario doch gab, war einer der Gründe, warum das Landgericht Bayreuth die Wiederaufnahme des Verfahrens verfügte.

Das Landgericht will von Kröber nun wissen, ob er unter diesen Umständen zu einer neuen Einschätzung komme. Der Vorsitzende Richter, so Lemmer, habe Kröber nahegelegt, er möge Ulvis Geständnis für „mehr oder weniger frei erfunden“ erklären. Kröber, so besagten die Informationen, deren Quelle Lemmer nicht offenlegte, „soll das vom Richter gewünschte Ergebnis schon zugesagt haben“. Überraschenderweise, so Lemmer, sei Kröber aber in seiner Stellungnahme entgegen dieser Zusage zu dem Ergebnis gekommen, Ulvis Geständnis sei doch glaubwürdig.

http://www.sueddeutsche.de/bayern/wiederaufnahme-im-fall-peggy-staatsanwalt-legt-mandat-nieder-1.1927817

Die beiden Journalisten berufen sich dabei auf nicht näher bezeichnete Quellen aus dem „Berliner Umfeld“ des Gutachters.

http://www.frankenpost.de/regional/oberfranken/laenderspiegel/Schwere-Vorwuerfe-gegen-das-Gericht;art2388,3253552

Im Licht der ersichtlichen Voreinstellung des Gutachters scheint eine solche Fehldeutung des Vorgangs des Gutachtenauftrags plausibel. Denn wie sollte er aus seiner Sicht die wiederholt vorgetragenen Ergänzungswünsche des Gerichts anders verstehen als ein Mißtrauensvotum gegen sein altes Gutachtenergebnis?

Es kann ihm schließlich nicht entgangen sein, daß die Staatsanwaltschaft Hof ihn deshalb bereits am 8.8.2002 mit einem Gutachten über die Aussagetüchtigkeit von Ulvi Kulac betraut hatte, weil die polizeilich erwirkten Geständnisse eines geistig Behinderten allein, die zeitnah aus gutem Grund nicht als Ermittlungserfolg öffentlich gemacht wurden, zur Überführung nicht ausreichten. Bei Abwesenheit von polizeilichem Druck war erfahrungsgemäß jederzeit mit einem Widerruf zu rechnen.

Prompt bestritt Ulvi Kulac gegenüber dem Sachverständigen am 22. und 23.08.2002 sowie am 10.09. 2002 (selbst noch am 14. 10.2002) die Tötung Peggys. War das der Grund, weshalb diese Explorationen entgegen den Mindestbestimmungen für die Anfertigung von aussagepsychologischen Gutachten nicht aufgezeichnet wurden? Waren diese Explorationen nur Aufwärmübungen für die eigentliche (aufgezeichnete) Exploration vom 14.10.2002, in der Ulvi Kulac aufgefordert wurde, sein gegenüber der Polizei abgegebenes Geständnis zu wiederholen?

In seiner methodenkritischen Erstanalyse des Gutachtens kommt der forensische Psychologe Dr. Rudolf Sponsel bei Untersuchung dieser zunächst komplett fehlgeschlagenen Gedächtnisprobe vom 14.10.2002 u.a. zu folgenden Ergebnissen:

4.5  Komplizierte Mehrfachvorgaben – mindestens zwei  – , die miteinander nicht in direktem, unmittelbaren Zusammenhang stehen, die überwiegend auch zudem noch Suggestivfragen beinhalten. Ein ganz fatales Beispiel (siehe auch oben Kröber-01):

Kröber-02.2: Jetzt haben wir uns das angehört, das letzte Stückchen, und das ist soweit okay. Nun haben Sie ja eine Geschichte erzählt, die noch nicht ganz dem entspricht, was Sie bei der Polizei erzählt haben. [S. 74] Da fehlt mittags rum ein Stück. Dieses Stück würde mich noch mal interessieren, was Sie da der Polizei erzählt haben, daß Sie der Peggy begegnet sind. Ich weiß, daß Sie jetzt sagen, Sie sind der Peggy an dem Montag nicht begegnet. Aber damals haben Sie der Polizei was anderes erzählt. Das würde ich gerne noch einmal von Ihnen hören, was Sie damals der Polizei erzählt haben, als Sie da am Henri-Marteau-Platz sitzen, auf der Rentnerbank, glaube ich.“
Kulac-02: Das war nicht die Rentnerbank.“

Wie hätte an dieser Stelle richtig gefragt werden können und müssen? Nun, z.B.

  • Gibt es noch was oder ist diese Geschichte fertig? Falsch suggestiv wären: Gibt es noch was? ebenso wie Ist die Geschichte fertig? Oder: Fehlt noch was?
  • Hm. Ist das haarklein die Geschichte, die Sie der Polizei erzählt haben oder ist das noch nicht haarklein die Geschichte, die Sie der Polizei erzählt haben?
  • Haben Sie etwas vergessen oder fehlt nichts mehr? Falsch suggestiv wäre: Haben Sie etwas vergessen? Oder: Fehlt vielleicht noch was?

Völlig unmöglich sind natürlich Kröbers Suggestionen: 1) entspricht nicht der Geschichte bei der Polizei. 2) Es fehlt mittags rum ein Stück. Und völlig fatal 3) Peggybegegnung. 4) Henri-Marteau-Platz, 5) sitzen, 6)  Rentnerbank  – von Ulvi Kulac übrigens zurückgewiesen. Kröber gibt hier – wie der allerschlimmste Anfänger – genau das vor, was Ulvi erzählen soll, um anschließend zu schlussfolgern, dass Ulvi die „falsche“ Geschichte gut nacherzählen konnte – bei einer Suggestivfragenrate von 68%. Tatsächlich erzählte Ulvi Kulac bereits in seiner ersten umfassenden Antwort weitgehend die seiner Meinung nach richtige (Erst)- Geschichte

[…]

6.2.c  Geständnisvergleiche
Ulvi Kulac wird aufgefordert dem Gutachter „haarklein“ zu erzählen, was er im Juli der Polizei erzählt hat. Die Konstanz bezieht sich auf das widerrufene Geständnis und damit auf die Nacherzählung einer falschen Geschichte, die noch dazu eine ganze Reihe durch Zeugenaussagen und Rekonstruktion bestätigbarer Aussageteile enthält. Was soll das für einen Beweiswert haben? Die Schlusslogik ist mir aus der aussagepsychologischen Literatur auch nicht bekannt. Grundidee und Hauptsatz des Kröber’schen Ergebnisses:
Eine falsche Geschichte ist wahr, wenn sie richtig nacherzählt werden kann. Ein solches Kriterium findet sich nicht unter den 19 Kriterien, die der BGH in seinem aussagepsychologischen Urteil 1999 ausweist.

http://www.sgipt.org/forpsy/Kulac/MKEAKr%C3%B6b.htm

Aus welchen Gründen könnte sein „Berliner Umfeld“ gegenüber Journalisten Auskunft über sein Verständnis des neuen Gutachtenauftrags gegeben haben? Anhaltspunkte dafür ergeben sich aus seinem Gutachten, denn so rechtfertigte er sein Tätigwerden auf einem fachfremden Gebiet:

In der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Einlassungen von Herrn Kulac bei den Vernehmungen am 2. Juli 2002, 23.07.2002 und 24.07.2002 sowie den Video-Rekonstruktionen vom 30.07 und 01.08.2002 stützt sich das Gutachten auf die Kriterien und Qualitätsmaßstäbe zur aussagepsychologischen Beurteilung, wie sie von Max Steller und Renate Volbert, Institut für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin, in ihrem Gutachten für den Bundesgerichtshof dargelegt wurden.

Dieses Gutachten bildete eine wesentliche Grundlage des Urteils des BGH vom 30. Juli 1999 (1 StR 618/98)2 „Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten )“.

M. Steller, R. Volbert (1999) Wissenschaftliches Gutachten Forersisch- aussagepsychologische Begutachtung (Glaubwürdigkeitsbegutachtung).

Praxis der Rechtspsychologie 9: 46-112; siehe auch: M. Steller, R. Volbert (2000) Anforderungen an die Qualität forensisch-psychologischer Glaubhaftigkeitsbegutachtungen. Praxis der Rechtspsychologie 10, Sonderheft 1, 102-116: 46-112 2 I;3GH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618198, abgedruckt in: NJW 1999, S. 2746-2751, Strafverteidiger 9199, S. 473-478, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2000, S. 100-105, sowie Praxis der Rechtspsychologie 9 (1999) 113-125 sowie 10 (Sonderheft Glaubhaftigkeitsbegutachtung) S. 117-130

Der Sachverständige ist als Leiter dieses Instituts in ständiger Diskussion mit Prof. Dr. Max Steiler, Frau Dr. Renate Volbert und weiteren wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Instituts im Hinblick auf die fortlaufende Forschung zu Realkennzeichen und Qualitätskriterien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung; der konkrete Fall wurde vom Sachverständigen auch eingehend mit Prof. Steller diskutiert.

[S. 3 f. des Kröber-Gutachtens]

Daß er sich mit dieser indirekten Einbeziehung des leitenden Personals der Abteilung „Rechtspsychologie“ in seinem Berliner Umfeld nicht nur Freunde gemacht haben wird, leuchtet ein.

Christoph Lemmer hatte schon im Dezember 2013 versucht, die behauptete Assistenz der aussagepsychologischen Koryphäen Steller/Volbert zu ermitteln:

Dass Kröbers Gutachten erst jetzt kritisch untersucht wird, könnte damit zusammenhängen, dass er als Direktor des Instituts für forensische Psychiatrie in Berlin in seiner Zunft zu den Mächtigen gehört, mit denen man sich nicht ohne weiteres anlegt. Es könnte außerdem damit zusammenhängen, dass er in seinem Gutachten anmerkt, er habe sich mit zweien seiner Kollegen ausgetauscht, nämlich Professorin Renate Volbert und Professor Max Steller, was wohl auf zusätzliche fachliche Autorität weisen soll. Das hätte ich gern hinterfragt, was aber größtenteils misslang. Steller wollte das auf meine Anfrage nicht kommentieren. Auch Frau Volbert beantwortete meine Fragen nicht, schickte mir aber stattdessen einen von ihr verfassten Aufsatz. Der trägt sinnigerweise den Titel “Falsche Geständnisse”, zitiert Studien, bei denen zehn bis 20 Prozent früherer Verhörpersonen sagten, sie hätten schon einmal falsche Geständnisse abgelegt und befasst sich umfassend mit den Motiven für falsche Geständnisse.

http://www.bitterlemmer.net/wp/2013/12/12/peggy-justizirrtum-fehlurteil-kroeber-mollath-gutachten-psychiatrie-wiederaufnahme-bayreuth-lichtenberg/

Was ist demnach von der angeblichen „Absprache“ zwischen dem Vorsitzenden Richter und dem Sachverständigen zu halten?

Das glaubwürdige Dementi des LG Bayreuth liest sich so:

In diesem Zusammenhang hat der Vorsitzende in Telefonaten mit dem Sachverständigen im Rahmen seiner Verpflichtung zur sachgerechten Vorbereitung der Hauptverhandlung diesem den Wiederaufnahmegrund erläutert, der sein Gutachten betrifft. Der Vorsitzende hat dem Sachverständigen, welchem zum Zeitpunkt der vorbereitenden Telefonate die Akten und der Wiederaufnahmebeschluss noch nicht vorlagen, deutlich gemacht, weshalb es sich bei der Existenz der Tathergangshypothese aus Sicht der Kammer um eine wesentliche Änderung der Tatsachengrundlage seines vormals erstatteten Gutachtens handelt. Zu keinem Zeitpunkt hat der Vorsitzende dem Sachverständigen inhaltliche Vorgaben für das von ihm zu erstattende Gutachten gemacht oder gar ein Ergebnis vorgegeben. Der Vorsitzende hat dies auch den Verfahrensbeteiligten heute so mitgeteilt.

http://www.justiz.bayern.de/imperia/md/content/stmj_internet/gerichte/landgerichte/bayreuth/peggy_14_04_03_pressemitteilung.pdf

Übersetzt: es bedurfte mehrere Telefonate, um den Gutachter Kröber davon zu überzeugen, sein damaliges Gutachten zu ergänzen. Kröber mußte mehrfach klargemacht werden, daß die Tathergangsghypothese, die ihm seinerzeit nicht vorgelegen haben soll, eine wesentliche Änderung der Tatsachengrundlage seines Gutachtens darstelle. Diese Wertung greift der sachverständigen Stellungnahme vor; denn wenn eine wesentliche Änderung vorliegt, dann müßte sich auch am Ergebnis etwas ändern – insoweit könnte der Eindruck entstanden sein, das Gericht habe eine inhaltliche Vorgabe gemacht. Daß Prof. Kröber entsprechendes explizit zugesagt haben soll, halte ich angesichts seiner akzentuierten Persönlichkeit wiederum für absolut unwahrscheinlich. Ihm dürfte subjektiv bereits die Annahme des neuen Auftrags als Niederlage erschienen sein, stellt man seine vehemente Mail an Christoph Lemmer von April/Mai 2012 in Rechnung.

Aufklärungsbedarf sehe ich eher bei der Vorfrage, die Gisela Friedrichsen aufwirft:

Kröber, der Ulvi K.s Geständnis für glaubhaft hält, ist Psychiater, nicht Psychologe. Warum ausgerechnet er und nicht, wie üblich und geboten, ein namhafter Aussagepsychologe von der Staatsanwaltschaft beauftragt wurde, bleibt das Geheimnis der Ankläger in Hof. Dass es nur pragmatische oder ökonomische Gründe gewesen sein sollen, ist wenig glaubhaft.

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/fall-peggy-knobloch-ulvi-k-bekommt-neues-verfahren-a-963089.html

Da hat sie recht. Prof. Kröber macht solche pragmatischen Gründe in seinem Gutachten zwar geltend:

Nach den beiden ersten Untersuchungsgesprächen wurde in Rücksprache mit der auftraggebenden Staatsanwaltschaft entschieden, daß auch die aussagepsychologische Beurteilung durch den Sachverständigen übernommen wird, zumal unter pragmatischem Aspekt ansonsten ein Begutachtungsabschluß im Jahre 2002 nicht möglich gewesen wäre.

Speziell unter diesem Gesichtspunkt erfolgten dann die beiden nachfolgenden Gespräche am 10.09. und am 14.10.2002, wobei Herr Kulac bei letztgenanntem Gespräch bereit war, nochmals eingehend sein der Polizei gemachtes Geständnis dem Sachverständigen zu wiederholen und auf Tonband aufzeichnen zu lassen.

[S. 114]

Aber er widerspricht dieser angeblich nachträglichen Auftragserweiterung aus praktischen Gründen durch die Staatsanwaltschaft selbst. Bei der Wiedergabe seiner Belehrung von Ulvi Kulac vor der ersten Exploration am 22.8.2002 heißt es [Hervorhebung von mir]:

Herr Ulvi Kulac wurde nach Vorankündigung erstmals am 22.08.2002 im BKH Bayreuth auf der Station FP 6 aufgesucht. Er war über das Kommen des Sachverständigen informiert.

Es wurden ihm zu Beginn Gegenstand und Ablauf der Begutachtung erläutert.

Er wurde darauf hingewiesen, daß es hierbei speziell um die Aussagetüchtigkeit ginge und um die Glaubhaftigkeit seiner Aussage. Er wurde darauf hingewiesen, daß er die Teilnahme an der Begutachtung verweigern könne.

[S. 47]

Soll man sich jetzt aussuchen, an welcher Stelle Kröber die Unwahrheit spricht?

Daß Kröber bei seinem Gutachtenergebnis trotz Vorliegens einer in ein umfassendes Vernehmungskonzept eingebetteten Tathergangshypothese geblieben sein soll, ist nahezu unerklärlich; Friedrichsen hierzu:

Unter anderem heißt es in der Tathergangshypothese: „Im vorliegenden Delikt dürfte es zu einer Eskalation im Handlungsablauf gekommen sein… Grund für die Eskalation könnte die Vergewaltigung der Peggy durch Ulvi im Vorfeld sein und er am 7.5.01 bei einer erneuten Kontaktaufnahme mit Peggy eine Überreaktion auf ihre ‚Flucht‘ vor ihm zeigte, wobei eine Einwirkung auf den Hals aufgrund von Schreien der Peggy nicht auszuschließen ist. Bei der Beseitigung der Leiche wirkten weitere Personen, evtl. enges familiäres Umfeld des Ulvi mit…“ Dürfte, könnte, eventuell, alles Hypothesen, bis heute. Genauso hat es Ulvi K. dann gestanden. Zudem hatte man ihn mit angeblichen Blutspuren an seiner Kleidung konfrontiert, die tatsächlich nicht existierten.

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/fall-peggy-knobloch-ulvi-k-bekommt-neues-verfahren-a-963089.html

Aber letztlich, da stimme ich ihr zu, wird es auf ein unrichtiges Gutachten zu einem falschen Geständnis gar nicht ankommen. Die Tatsachen sprechen für sich.

Falsch ist auf jeden Fall der Tathergang, von dem die Polizei ausging, da sind sich Jung und Lemmer einig. Ein Indiz: Ulvi K. soll Peggy aus dem Ortskern bis zur Burg nachgelaufen sein (siehe Karte). „Ulvi K. kann gar nicht rennen“, sagt Lemmer.

Am Nachmittag nach dem Pressetermin in Bayreuth stehen er und Jung hinter dem Haus in Lichtenberg, in dem Peggy lebte. Es ist verwahrlost, am Fenster im ersten Stock verblassen Kinder-Aufkleber. Zwischen dem Grundstück und dem Friedhof verläuft der bucklige, schmale Weg, den die Ermittler für Peggys Fluchtweg hielten. „Hätten die Polizisten Ulvi nur ein einziges Mal die Strecke rennen lassen“, sagt Ina Jung, „dann hätten sie gemerkt, dass es so nicht gewesen sein kann.“

Gleich der erste Prozesstag könnte für die Polizei brisant werden. Zwei junge Männer werden aussagen – sie sahen ihre Schulkameradin Peggy am 7. Mai 2001 in einen roten Mercedes mit tschechischem Kennzeichen einsteigen. Sie machten detaillierte Aussagen, wussten sogar noch, dass sie an dem Tag Würstel zu Mittag gegessen hatten. Doch ihre Aussage spielte im ersten Prozess keine Rolle.

Jung und Lemmer machten die beiden ausfindig. Sie erzählten ihnen, dass die Ermittler sie kurz nach ihrer ersten Aussage unter Druck gesetzt hatten: Die Polizisten besuchten die Buben getrennt voneinander, ohne Eltern, erzählten ihnen, der jeweils andere habe seine Angaben zurückgenommen. Die Kinder bekamen Angst, zogen ihre Aussagen zurück. Jetzt bekommen sie eine zweite Chance. Und vielleicht auch Ulvi K.

Von Carina Lechner

http://www.merkur-online.de/aktuelles/bayern/peggy-suche-nach-wahrheit-3466751.html

Die Vernehmung

Am zweiten Tag des „Peggy-Prozesses“ sind etliche Kripo-Beamte als Zeugen geladen. Auf sie warten viele, sehr unangenehme Fragen.

Von Joachim Dankbar

Hof Es spricht viel für die Annahme, dass der kommende Freitag, als der zweite Verhandlungstag des Peggy-Prozesses, ein besonders unangenehmer Tag werden wird. Das gilt weniger für den Angeklagten Ulvi Kulac, als viel mehr für die Polizisten, die ihn im Juli 2002 vernommen haben. Das Bayreuther Gericht hat an diesem Tag die Chance zu klären, wie es zu jenem Geständnis kam, das der wesentliche Grund für die Verurteilung von Kulac am 30. April 2004 durch das Hofer Landgericht geworden ist. Das Wiederaufnahmeverfahren fußt auf der Annahme, dass das Hofer Gericht wesentliche Umstände des – später widerrufenen – Geständnisses nicht kannte. In Bayreuth könnte nun geklärt werden, ob die Richter bewusst getäuscht wurden.

Als Zeugen sind der prominente Profiler bei der Münchner Kripo, Alexander Horn, und Wolfgang Geier, der damalige Chef der „Soko Peggy II“ geladen. Der damals 31-jährige Alexander Horn verfasste eine genaue Gebrauchsanleitung für die Vernehmung von Ulvi Kulac, die am 2. Mai 2001 bei der Soko Peggy II einging. Darin stand, wo die Vernehmung stattfinden sollte, wer an ihr teilnehmen sollte und im Grunde stand auch darin, was dabei herauskommen sollte. Denn Horn gab eine komplette Version der angeblichen Vorgänge vor, die am 7. Mai 2011 zum Tod von Peggy Knobloch geführt haben sollen. Unter dem Begriff „Tathergangshypothese“ sollte diese Version noch traurige Berühmtheit erlangen. Fakt ist: Diese Hypothese ähnelt in weiten Zügen dem Geständnis, das Ulvi Kulac später ablegen sollte.

[…]

Es ist nicht das einzige Mal, dass Geier Ärger mit den eigenen Mitarbeitern bekommt. Nach Informationen unserer Zeitung gab es auch innerhalb der Kripo immer wieder Beschwerden über Geiers Ermittlungsmethoden. So sollen Hinweise der Beamten auf andere Spuren oder Bedenken weggefegt worden sein.

Der forsche Geier gilt als „Mann mit Scheuklappen“. Das wird ihm später spektakulär zum Verhängnis. Die von ihm geleitete „Soko Bosporus“ übersieht jahrelang jede Spur der NSU-Mörder und sucht nur Täter im Umfeld der zumeist türkischen Opfer. Sie kriminalisiert sie und ihre Familien – obwohl Profiler Horn auf die Handschrift rechtsextremer Einzeltäter hinweist.

Trotz aller penibler Vorbereitungen bestreitet Ulvi Kulac auch am 2. Juli zunächst jede Schuld. Nun überschlagen sich die Merkwürdigkeiten: Am Ende des Verhörs soll Kulac in die Psychiatrie zurückgebracht werden. Deswegen verabschiedet sich sein Verteidiger. Kaum ist er fort, soll Kulac es sich anders überlegt haben. Die Beamten bringen ihn zurück in den Verhörraum, wo Kulac gesteht. Auf einmal ist aber das Tonband defekt, mit dem die Vernehmungen sonst protokolliert werden. Im Nebenzimmer soll es ein weiteres Tonband gegeben haben, das aber auch nicht verwendet wird. Warum, das weiß keiner mehr – oder keiner kann es schlüssig erklären.

So gibt es vom Geständnis nur ein Gedächtnisprotokoll eines einfachen Polizeihauptmeisters, eben „jenes väterlichen Freundes“ aus Lichtenberg. Trotz der Tragweite des Geschehens fertigt er es auch erst am nächsten Morgen an. Später wird Ulvi sagen, dass er nur gestanden habe, um wieder in Ruhe gelassen zu werden. Er klagt auch darüber, dass er körperlich angegangen wurde.

Obwohl sich später alles, was Ulvi Kulac an jenem Abend zum Verbleib der Leiche sagt, als erfunden herausstellt, bleibt das Geständnis die wichtigste Grundlage seiner Verurteilung wegen Mordes. Es gibt nicht einen einzigen Sachbeweis gegen ihn.

[…]

Klarheit könnte auch Gerhard Heindl schaffen. Er vertrat 2003 und 2004 die Anklage gegen Ulvi Kulac. Unserer Zeitung sagte Heindl, dass er zu diesem Fall gar nichts mehr sagen werde, da er nicht mehr Staatsanwalt sei. Heindl ist heute Direktor des Amtsgerichts in Weiden. Alexander Horn ist weiter der prominenteste Profiler Bayerns. Wolfgang Geier ist der oberste Verbrechensbekämpfer der Kripo in Unterfranken. Ulvi Kulac freut sich über den ersten Freigang seit zwölf Jahren.

http://www.frankenpost.de/regional/oberfranken/laenderspiegel/Die-Vernehmung;art2388,3263713

Ja, über „Erfolge“ bei einer Staatsanwaltschaft Bayerns macht man Karriere als Richter. Amtsgerichtsdirektor wird nicht jeder.

Nachzutragen bleibt, daß an jenem berüchtigten 2. Juli 2002 nicht nur das Tonbandgerät versagte, sondern auch die Videokamera: da funktionierte nur der Ton…

Beides ist verständlich. Das Geständnis vom 2.7.2002 war ja in seinen nachprüfbaren Teilen schnell widerlegt, und mußte in den nachfolgenden zwei Vernehmungen optimiert werden. Es ist zu hoffen, daß dieser Polizei-, Psychiatrie- und Justizskandal in der jetzt anstehenden Hauptverhandlung geklärt wird. Denn noch steht die Behauptung von Jung/Lemmer im Raum, daß sowohl das Gericht als auch der Gutachter Kröber die Tathergangshypothese gekannt hätten, bevor sie ihr Urteil fällten.

*http://www.strate.net/de/dokumentation/Mollath-Nachtrag-zur-Anmerkung-der-Verteidigung-2013-11-17.pdf

http://strate.net/de/dokumentation/Mollath-Anmerkung-der-Verteidigung-2013-11-16.pdf

 

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Politik, Medien, Volkes Stimme & die Justiz: der Versuch eines Überblicks

Nebel

 

Seit über drei Monaten habe ich keinen Blog-Artikel mehr verfaßt, obwohl das Thema, die Analyse des psychiatrischen Gutachtens von Dr. Klaus Leipziger im Verfahren gegen Gustl Mollath, keineswegs beendet ist. Spüre ich den Ursachen meiner mangelnden Konsequenz nach, so muß ich eine merkliche Unlust, mich mit diesem Gutachten zu beschäftigen, eingestehen. Sie ist, diese Arbeit, bloße Destruierung ohne konstruktiven Mehrwert. Das Gutachten ist Geschichte wie die auf ihm fußende Verurteilung. Und was im Wesentlichen aus juristischer Sicht dazu zu sagen wäre, hat Oliver García schon vor langer Zeit in aller Kürze gesagt:

http://blog.delegibus.com/2013/08/26/fall-mollath-der-schleier-ist-gelueftet/

Neben dieser Unlust war es aber auch etwas anderes, das mich von der konzentrierten Arbeit an einem Artikel abhielt. Es waren die weiteren aus dem Ruder gelaufenen Ermittlungs- und Strafverfahren, die seit Ende 2013 auf die unnützliche Kommentatorin einwirkten. Seit Januar 2014 führten sie zu über 3.500 Kommentaren auf diesem Blog, von denen gut 25 % von ihr selber stammen dürften.

Die Verfahrensstoffe mögen noch so unterschiedlich sein: es eint sie doch das Phänomen, daß medialer und politischer Overkill deren eigentliche juristische Bedeutung bis zur Unkenntlichkeit überlagern. Gemeinsam ist diesen Fällen auch, daß das Verfahren selbst, unabhängig von seinem Ausgang, die eigentliche Strafe ist. Daß mit Mitteln des Strafrechts Politik gemacht wird. Und als basso continuo erklingt in User-Kommentaren und Blogs mehrheitlich das Mißtönendste, zu dem Volkes gern kernig- rauhe Stammtischstimme fähig ist: ein ohrengellendes „Kreuziget ihn!“ aus niedrigen Beweggründen.

Nehmen wir den Fall Uli Hoeneß. Verhandelt auf Seite eins in allen Printmedien, Live-Ticker in den online-Medien, Zigtausende von dissenden anti-FC-Bayern-Leser-Kommentaren, vom Opfer auch noch wurstsemmelverwöhnte Paparazzi am Tegernsee, Ferndiagnosen von unberufenen Seelenflüsteren, die zwischen Spielsucht und Narzißmus schwankten -: alle alle engagierten sie sich, ob Sportreporter, Gerichtsberichterstatter oder Wirtschaftsjournalist; allen voran der STERN, der sich mit Journalistenstolz nach dem Präsidentensturz nun auch noch den Abschuß einer Sport- und Gesellschaftsgröße ordensmäßig an die geschwellte Brust heftet. In dieser Selbstbesoffenheit scheinen juristisch geahndete Falschinformationen nur eine Petitesse zu sein, zumal es ja noch eine zweite Instanz gibt:

28. März 2014 19:21

Zivilprozess gegen den „Stern“ 4:0 für Hoeneß

Im Strafprozess in München wurde Uli Hoeneß zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, im Zivilprozess gegen den „Stern“ bleibt der ehemalige Fußballmanager der Gewinner. Das Landgericht Hamburg verurteilt den Verlag Gruner + Jahr und einen Reporter zu einer Unterlassungserklärung in vier Punkten.

Von Hans Leyendecker

http://www.sueddeutsche.de/sport/zivilprozess-gegen-den-stern-fuer-hoeness-1.1924434

Andererseits wird jetzt deutlich, daß der vermutlich gutbezahlte STERN-Informant von der Vontobel-Bank, wahrscheinlich ein finanztechnisch eher unbeleckter System-Administrator, nur oberflächlich über die wirtschaftlichen Hintergründe der Kontenbewegungen unterrichtet war, wie man diesem klug analysierenden Artikel entnehmen kann:

Banken

Die Helfer des Uli Hoeneß

An der Zockerei des Managers waren mehrere Banken beteiligt – unter ihnen Julius Bär. So manches Rätsel scheint inzwischen gelöst. von Arne Storn

DIE ZEIT Nº 14/2014 26. März 2014  19:15 Uhr

Einmal schauen, wie der berühmteste Straftäter der Republik bald leben wird, einmal hören, welche Arbeiten auf ihn zukommen: Nächste Woche dürfen Journalisten sich ein Bild davon machen, welche Haftbedingungen Uli Hoeneß in der Justizvollzugsanstalt in Landsberg am Lech erwarten. Dort muss der Ex-Präsident des FC Bayern München demnächst seine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten antreten.

Während sich die Scheinwerfer der Medien bereits auf die Zukunft richten, scheinen sich langsam ein paar Rätsel der Vergangenheit zu klären, die nach dem Urteil offen geblieben waren: Woher kam das Geld zum Beispiel? Wie konnte es sich so drastisch vermehren?

http://www.zeit.de/2014/14/uli-hoeness-zockerei-banken/komplettansicht

In all diesem Getöse wirkte die Hauptverhandlung selbst wie eine gutgeölte Inszenierung, die zu unaufwendig daherkam, um den außerprozessualen Aufwand rechtfertigen zu können. Eine notwendige Fußnote im Gesamtgeschehen, den Gesetzen der Prozeßökonomie gehorchend, einen unausgesprochenen Deal vollziehend. Ob das Urteil „gerecht“ war? Janun, das ist so wie mit dem halbleeren und dem halbvollen Glas. Zwischen der kompletten Strafbefreiung durch eine wirksame Selbstanzeige und einer ausschließlich an der Höhe der hinterzogenen Steuer orientierten Strafzumessung hat man sich auf dem kürzesten, nämlich dem halben, Weg getroffen. Und die Schlußrechnung wird ohnehin das Finanzamt Miesbach aufmachen…

Das Strafverfahren war lediglich conditio sine qua non für das Eigentliche, nämlich das wollüstige Suhlen im Schicksal des gefallenen Helden, ein antikisches Drama mühsam wiederbelebend. Ein Circus Maximus der öffentlichen Erregung. Gut 150 Reporter tummelten sich am Tag der offenen Zelle im Landsberger Gefängnis. Es blieb der ZEIT vorbehalten, beim JVA-Sightseeing sowohl mitzumischen als auch Distanz zu BILD-Reportern einzunehmen, die dort Selfies im Knastraum produzierten. Und nebenbei daran zu erinnern, daß Knast bürokratische Gewaltunterworfenheit bedeutet, die der angeblich angestrebten Resozialisierung diametral entgegenwirkt. Von der Subkultur, die im Erstverbüßer-Vollzug in Landsberg allerdings nicht sehr ausgeprägt sein dürfte, mal ganz abgesehen.

Haftstrafe Hoeneß und die JVA-Metzgerei

Kurz vor Haftantritt des früheren FC-Bayern-Präsidenten öffnet die Justizvollzugsanstalt Landsberg ihre Türen für Journalisten. Denen vergeht auf dem Rundgang das Lachen. von Georg Etscheit, Landsberg

Aktualisiert 31. März 2014  17:52 Uhr

„Die Mitnahme von Geschirr und Besteck in die Hafträume ist grundsätzlich verboten.“

„Die Spülküche ist kein Aufenthaltsraum. Nichtbeachtung wird disziplinarrechtlich geahndet.“

„Badeschlappen und Hauspantoffeln nur im Haftraum und auf dem Weg zur Dusche und zurück. Sonst ist das Tragen wegen Unfallgefahr verboten.“

„Ab Februar 2009 besteht bis auf weiteres die Möglichkeit, einmal im Monat Gebäck aus der Anstaltsbäckerei zu bestellen. Es gibt drei verschiedene Sorten.“

Es gleicht einem radikalen Akt konkreter Poesie, all die Anordnungen, Vorschriften, Erlasse und Verfügungen, die hier die Wände bedecken und die Aushängekästen füllen, unkommentiert hintereinander zu stellen.  Schnell lässt sich zumindest ansatzweise ermessen, was es bedeutet, hier in der Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech Tage, Monate, gar Jahre verbringen zu müssen: Wer hier einsitzt, verliert nicht nur die Bewegungsfreiheit, sondern auch, ganz allgemein gesprochen, die Verfügungsgewalt über das eigene Leben.

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-03/jva-landsberg-gefaengnis-hoeness

Ich hätte nicht gedacht, daß ich Horst Seehofer einmal würde loben können: aber für diese Aktion tue ich es:

Am Ende der Debatte stand nach Aussage Aigners „die Bitte des Ministerpräsidenten, dass in Zukunft staatliche Stellen nicht dazu beitragen, hier Tür und Tor zu öffnen“.

Teilnehmer der Kabinettssitzung schilderten den Vorgang etwas drastischer. Seehofer sei schon „sehr, sehr sauer“ zur Tür hereingekommen und habe gleich zu Beginn der Sitzung Bausback zur Rede gestellt. Hintergrund war angeblich eine Beschwerde des FC Bayern über die Fotos und Filme sowie die Live-Reportagen von Fernsehsendern aus der Justizvollzugsanstalt. Dabei wurden nicht nur Gebäude, Gänge und der Fußballplatz der Anstalt gezeigt, sondern auch das Innenleben der Zellen. Dies wurde beim FC Bayern und dann auch vom Ministerpräsidenten offenkundig als Verletzung der Intimsphäre gewertet und soll sich künftig nicht wiederholen. Seehofer wurde mit den Worten zitiert: „Das hört sich auf!“ Bausback habe sich im Kabinett, wie es gestern hieß, mit Hinweis auf das große Medieninteresse verteidigt.

Uli Bachmaier

http://www.mainpost.de/regional/bayern/Nach-Pressetermin-im-Fall-Hoeness-Seehofer-aergert-sich-ueber-JVA;art16683,8063581

Das ist allerdings auch bereits Schnee von gestern in unserer schnellebigen Welt, denn nun wird schon in eine ganz andere Richtung spekuliert:

Die Führung von 157 Reportern und Fernsehtechnikern durch die JVA Landsberg hat in der Öffentlichkeit ein geteiltes Echo gefunden. Hat Gefängnisleiterin Monika Groß den Informationsanspruch von Presse, Funk und Fernsehen übererfüllt, indem sie auch exemplarische Zellen zur Besichtigung öffnete? Wurde die Privatsphäre von Hoeneß bereits verletzt, bevor er seine Strafe überhaupt angetreten hat? Oder war alles ohnehin nur Show, weil Hoeneß gar nicht lange in Landsberg bleiben, sondern an die JVA-Außenstelle in Rothenfeld nahe Andechs am Ammersee überstellt wird?

Das glaubt ein ehemaliger Landtagsabgeordneter, der einst selbst im Polizeidienst war. Er bescheinigt Landsberg, eine „Muster-JVA zu sein, die auch vorzüglich geleitet wird“, erwartet aber die baldige Verlegung des Promi-Inhaftierten Hoeneß („Innerhalb von 24 Stunden – denn ein normaler Vollzug dürfte in der Haupteinrichtung nicht zu realisieren sein“) nach „Rothenfeld Nr. 2“. Dort finde man „wenig Gemeinsamkeiten mit der Haftanstalt für Jedermann in Landsberg. Sie verfügt über Einrichtungen und Möglichkeiten, die den gehobenen Ansprüchen ,gehobener Gäste’ entspricht. Auch der Kontakt zu den Häftlingen in der Landsberger Einrichtung und auch die Freigängermöglichkeiten sind hier den besonderen Gästen angepasst.“

http://www.merkur-online.de/sport/fc-bayern/uli-hoeness-jva-landsberg-gemueseanbau-rothenfeld-3452066.html

Voilà, für Medienfutter und Neiddebatten wird auch weiterhin gesorgt sein.

Unter umgekehrten Vorzeichen fand der Prozeß gegen Christian Wulff statt. Hier hatten die Medien das Wild bereits erlegt, und der Staatsanwaltschaft Hannover oblag die undankbare Aufgabe, ihren Antrag auf Aufhebung der Immunität des damaligen Bundespräsidenten im Nachhinein zu rechtfertigen. Mit einem in jederlei Hinsicht unproblematischen privaten Hauskredit hatte die Medienmeute unter Anführerschaft von BILD-Heidemann begonnen, nachgelegt wurde mit allerlei Verdächtigungen wie einem späteren angeblichen „Schnäppchen-Kredit“; sie machten vor dem berühmten Bobby-Car für den Sohn und Kleider-Ausleihe für die Gattin nicht halt, sogar Erfindungen wie die einer kostenlose Zur-Verfügung-Stellung eines Spezialfahrzeugs der Firma Audi zugunsten der Ehefrau dienten dem ersichtlichen Ziel, den ungeliebten Präsidenten loszuwerden. Nachdem BILD wahrheitswidrig verbreitet hatte, Präsi-Kumpel Groenewold habe versucht, in Sylt Beweismittel beiseitezuschaffen (tatsächlich hatte er sich dort nur Buchungs- und Rechnungskopien besorgt), gab es kein Halten mehr. Die Staatsanwaltschaft witterte Verdunkelungsgefahr, und wo verdunkelt wird, muß zwingend eine Straftat vorliegen.

By the way: einem BILD-Verantwortlichen wie Kai Diekmann wahre Worte auf den Anrufbeantworter zu sprechen, halte ich nicht für einen Angriff auf die Pressefreiheit, sondern für Bürgerpflicht. Und Christian Wulff ist lediglich vorzuwerfen, daß er teilweise die winselnde Diktion eines Bittstellers verwandte.

http://www.bild.de/politik/inland/wulff-kredit-affaere/das-sprach-wulff-dem-bild-chef-auf-die-mailbox-34832232.bild.html

So nahm das Verhängnis seinen Lauf. Mit Millionenaufwand und einem Heer von sich verselbstständigenden LKA-Ermittlern wurde jeder Stein umgedreht. Zwischenzeitlich leakten strafrechtlich unerhebliche Ermittlungsergebnisse an die Presse, vom zeitweise überzogenen Konto des Ministerpräsidenten bis zur verpfändeten Rolex. Der Berg kreißte, aber er gebar nur das 750-Euro-Mäuslein einer Oktoberfest-Einladung im Jahr 2008 durch Freund Groenewold. Der Komplex „Sylt“ hatte sich genauso unergiebig wie alles andere auch erwiesen, das bereits geräuschlos von den Staatsanwaltschaften in Stuttgart und Berlin eingestellt worden war. Da man sich als Staatsanwaltschaft ja sonst nichts gönnt, leistete man sich jedenfalls Starfotos der wackeren Ankläger, die Generalstaatsanwalt Frank Lüttig, von Wulffs Intim-Parteifeind Bernd Busemann ernannt, als Kanonenfutter an die unhaltbare Front schickte, während der General selbst die Vorverurteilungs-Werbetrommel rührte.

http://www.staatsanwaltschaften.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=22924&article_id=119405&_psmand=165

[Fotos links unten]

Generalstaatsanwalt verteidigt Verfahren

Beweise sind „sehr stark“: Wulff-Anklage wegen Bestechlichkeit

Samstag, 20.04.2013, 10:03

In die Ermittlungen gegen Ex-Bundespräsident Christian Wulff hat sich nun auch Generalstaatsanwalt Frank Lüttig eingeschaltet. Die Beweise gegen Wulff seien „sehr stark“, sagte er dem FOCUS. Außerdem verteidigte er die ermittelnde Staatsanwaltschaft in Hannover gegen Kritik.

http://www.focus.de/politik/deutschland/wulff-unter-druck/generalstaatsanwalt-verteidigt-verfahren-beweise-sind-sehr-stark-wulff-anklage-wegen-bestechlichkeit_aid_966243.html

Es kam, wie es kommen mußte: die Hauptverhandlung ergab Nullkommanichts für eine durch das Landgericht Hanover bereits im Eröffnungsbeschluß von der angeklagten Bestechlichkeit heruntergezonte Vorteilsnahme; begann die Hauptverhandlung zunächst sachlich, entwickelte sie sich zunehmend zur Farce und endete als das Trauerspiel eines realitätsblinden Oberstaatsanwalts, der sich zuletzt sogar seiner Pflicht entzog, ein Plädoyer zu halten – stattdessen stellte er weitere sinnlose Beweisanträge. Der Freispruch vom 27.2.2014 folgte auf dem Fuße, ebenso die von Generalstaatsanwalt Lüttig bereits im Vorfeld angekündigte Revision.

Freispruch im Korruptionsprozess: Die gerettete Ehre des Christian Wulff

Von Gisela Friedrichsen, Hannover

Der Freispruch für Christian Wulff war zugleich Kritik an den Anklägern. Sie hätten eine eindrucksvolle Indizienkette präsentiert, doch entlastende Faktoren nicht gewürdigt und letztlich keine Beweise für ein Vergehen geliefert – dies sagte Richter Rosenow in der Urteilsbegründung.

[…]

Dann befasste sich das Gericht mit den Anklagepunkten, von denen die Staatsanwaltschaft – ohne sie beweisen zu können – nicht lassen wollte.

  • Die Kammer habe nicht feststellen können, ob Wulff am Abend des 26. September 2008 im Restaurant Trader Vics, einem Lokal im Keller des Hotels Bayerischer Hof in München an einem von Groenewold bezahlten Abendessen teilgenommen habe.

  • Sie habe auch nicht feststellen können, ob Wulff überhaupt gemerkt habe, dass Groenewold einen Teil der Wulffschen Hotelkosten übernahm.

  • Es gebe auch keinen Beleg dafür, dass er Groenewold nicht die Babysitter-Kosten in bar zurückgab, als er bemerkte, dass die auf seiner eigenen Rechnung fehlten.

  • Eine unter Juristen sogenannte „Unrechtsvereinbarung“ (nach dem Motto: Ich gebe dir etwas, damit du mir dann dafür einen Gefallen tust) habe man auch nicht feststellen können.

Die Angaben der Angeklagten, so Rosenow, seien „im Kern“ nicht widerlegbar. Für eine Verurteilung reiche es nicht aus, wenn ein Geschehen „möglich“ gewesen wäre, Handlungsalternativen aber auch denkbar seien. Die Staatsanwaltschaft habe eine Indizienkette geknüpft, die „auf den ersten Blick in dieser Zusammenballung ihre Wirkung nicht verfehlt“, so der Vorsitzende. Aber bei näherer Betrachtung, in der Gesamtschau, gebe es eben auch eine ganze Reihe entlastender Gesichtspunkte. „Bei dieser Ausgangssituation hätte es schon sehr handfester Beweise bedurft“, sagte Rosenow, „die hat man hier nicht.“ Die Abläufe „könnten so gewesen sein, wie die Staatsanwaltschaft annimmt. Aber es könnte auch anders gewesen sein.“

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gerettete-ehre-des-christian-wulff-a-956089.html

Die Sache wird enden wie das Kachelmann-Verfahren: eine maßlose Staatsanwaltschaft wird nach Lektüre der schriftlichen Urteilsgründe kapitulieren und die Revision zurücknehmen.

Bleiben wir zunächst bei der politisierten Staatsanwaltschaft Hannover, die mit dem Anfangsverdacht so ihre Probleme hat. Wenden wir uns also dem krassen Nicht-Fall Sebastian Edathy zu.

Man weiß gar nicht, wo man zuerst anfangen soll. Bei einem schlingernden BKA, das einerseits sehr früh auf die kanadischen Daten von Azovfilms des Brian Way aus der Operation „Spade“ reagiert, die aus unerfindlichen Gründen beim BKA als Operation „Selm“ firmiert. Das andererseits sehr viel sehr lange liegen läßt und angeblich erst am 15.10.2013 durch das Polizeipräsidium in Nienburg darüber informiert wird, daß einer der Besteller der selbst vorsortierten strafrechtlich unbedenklichen Fotos und Filme der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy sei. Desjenigen Abgeordneten, der seit Ende Januar 2012 als Vorsitzender des NSU-Ausschusses dem BKA und dessen Freunden vom Bundesverfassungsschutz Feuer unter dem Hintern machte. Muß eigentlich eine strafrechtlich nicht relevante Tatsache durch den BKA-Chef Ziercke zwingend dem bekannt schwatzhaften Politikbetrieb gemeldet werden? Was soll der denn damit anfangen?

Ziercke tut es jedenfalls, er meldet diese strafrechtlich irrelevante Erkenntnis zunächst an den Staatssekretär des Innern, Fritsche, jener an seinen Minister-Chef Friedrich, der sich gerade in Koalitionsverhandlungen mit der SPD befindet. Und daß die den aufstrebenden NSU-Untersuchungsausschuß-Star Edathy in ein Regierungs- oder Koalitionsamt befördern könnte, muß im Interesse auch der CDU verhindert werden. Partei, Regierung und Staat sind ja irgendwie identisch, alle drei müssen vor Schaden bewahrt werden, und so landet die Stille Post rechtswidrigerweise via Friedrich beim SPD-Chef Gabriel, der tratscht die wie auch immer mittlerweile deformierte Information an den Fraktionsvorsitzenden Steinmeier weiter, der an den Fraktionsgeschäftsführer Oppermann und letzterer schließlich an seine Nachfolgerin im Amt. Und nun schließt sich der Kreis, denn SPD-Oppermann ruft bei SPD-Ziercke an und erkundigt sich, was an der Sache dran sei. Vielsagendes Schweigen soll, so seine zweite Version des Telefonats, ertönt sein, und daraufhin weiß Oppermann, was zu tun ist, nämlich größtmögliche Distanz zum verdienten Parteifreund einzunehmen. Indem er, als alles publik geworden ist, am 11.2.2014 vollmundig erklärt:

SPD-Politiker Edathy

Oppermann fordert schnelle Klärung

Der SPD-Fraktionschef drängt die Staatsanwaltschaft, die Vorwürfe gegen Sebastian Edathy schnell aufzuklären. Sie wögen „ungeheuer schwer“.

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-02/thomas-oppermann-sebastian-edathy-ermittlungen

Dabei ist er ja eigentlich darüber informiert worden, daß strafrechtlich inkriminierende Bestellungen gar nicht vorliegen, und als Jurist müßte ihm schwanen, daß die Staatsanwaltschaft Hannover ohne einen validen Anfangsverdacht zugeschlagen hatte, wie der VorsRBGH Prof. Thomas Fischer in der ZEIT fulminant dargelegt hat:

Bitte entschuldigen Sie, Herr Edathy

Das Recht lebt von klaren Grenzen zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten. Wer nichts Strafbares tut, den darf die Justiz nicht verfolgen. Im Fall Edathy wurde diese Regel missachtet –Einspruch eines Bundesrichters von Thomas Fischer

http://www.zeit.de/2014/10/staatsanwaltschaft-fall-edathy

Aber Juristen, die zu Politikern mutieren, vergessen gern ihre nutzlos gewordene Ausbildung.

Nach dreimonatigem ergebnislosen Grübelns, ob die bloßen FKK-Filme nicht vielleicht doch irgendwie den Pornographie-Tatbestand erfüllen könnten – während dieser Zeit haben die kanadischen Behörden eine große und eher verschleiernde als wahrheitsgemäße Pressekonferenz über ihren Fall abgehalten, der betroffene Besteller Edathy hatte zwei Mal das kooperative Gespräch mit der Staatsanwaltschaft gesucht, die wahrheitswidrig so tat, als ob sie gar nicht wisse, was er wolle – bejahte sie ganz plötzlich einen Tatverdacht (denn wer harmlose Sachen hat, hat nach „kriminalistischer Erfahrung“ auch schlimmere). Einen Tag zuvor hatte Sebastian Edathy, der genugsam gewarnt und seit Anfang Januar krankgeschrieben war, notariell auf sein Bundestagsmandat verzichtet. So stellt er die Sachlage, im Einklang mit den bekanntgewordenen Tatsachen, in einem hochnotpeinlich geführten Verhör durch die inquisitorisch agierenden SPIEGEL-Redakteure Medick und Nelles dar, in einem am 17.3.2014 veröffentlichten Interview:

Edathy: Die Seite Azov Films ist vor einigen Jahren vom Netz gegangen. Man konnte damals durch eine einfache Internetrecherche feststellen, dass die kanadischen Behörden, die die Seite jahrelang nicht beanstandet hatten, ihre Position verändert hatten. Es sind daraufhin Maßnahmen in den USA und in Kanada erfolgt. Im Laufe des vergangenen Novembers gab es entsprechende Medienberichte in Deutschland, auf die ich aufmerksam wurde.

SPIEGEL: Es gibt den Verdacht, Sie hätten einen Tippgeber gehabt. Informiert waren nach eigenen Angaben in der SPD-Spitze Parteichef Gabriel, Frank-Walter Steinmeier, Thomas Oppermann und Christine Lambrecht. Haben Sie mit einer dieser Personen über den Fall gesprochen?

Edathy: Nein.

SPIEGEL: Haben Sie mit dem damaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich darüber gesprochen, der ebenfalls frühzeitig informiert war?

Edathy: Nein.

SPIEGEL: Haben Sie mit Mitarbeitern des Bundeskriminalamts oder anderer Sicherheitsbehörden darüber gesprochen?

Edathy: Nein.

SPIEGEL: Sie legten am 7. Februar Ihr Mandat nieder. Etwa zur gleichen Zeit wollte die Staatsanwaltschaft den Bundestagspräsidenten über den Plan informieren, gegen Sie zu ermitteln. Auch da besteht der Verdacht, Sie seien gewarnt worden.

Edathy: Ich konnte zwischen November 2013 und Anfang Februar 2014 nicht wissen, ob und in welcher Form tatsächlich staatsanwaltschaftliche Maßnahmen auf den Weg gebracht werden. Das war eine psychisch sehr belastende Situation. Ich habe mir diese innere Anspannung nicht länger zumuten wollen. Deswegen habe ich das Mandat vorsorglich abgegeben. Das habe ich am 6. Februar gegenüber einem Notar getan, der Termin war bereits Tage zuvor vereinbart worden, ohne Kenntnis davon gehabt zu haben, dass am selben Tag ein Brief der Staatsanwaltschaft auf dem Weg nach Berlin sein würde. Von dem habe ich erst am 10. Februar durch die Staatsanwaltschaft selber erfahren.

SPIEGEL: Warum haben Sie nicht schon im November oder Dezember Ihr Mandat zurückgegeben?

Edathy: Ich bin bis Ende Januar optimistisch gewesen, dass die zuständige Staatsanwaltschaft, wie andere Staatsanwaltschaften in vergleichbaren Fällen, ohne Anhaltspunkte für strafbares Verhalten auch, von Aktivitäten absehen würde. Ich hatte ihr ja frühzeitig über meinen Anwalt Kooperationsbereitschaft signalisiert. Dann aber wurde die Unsicherheit mir schlicht zu groß. Und es gab zeitgleich im Internet Berichte über andere Hausdurchsuchungen. Ich habe dann für mich eine politische Konsequenz gezogen. Meine Hoffnung war, dass mögliche Ermittlungen mit geringerer Wahrscheinlichkeit öffentlich werden würden, wenn ich nicht mehr Abgeordneter bin. Das hat, muss man wohl feststellen, nicht funktioniert.

[SPIEGEL 12/2014, S. 25]

Das alles hat ihm natürlich nichts genutzt, nachdem die Staatsanwaltschaft Hannover am 14.2.2014 eine über einstündige Pressekonferenz zur Rechtfertigung ihres rechtswidrig geschöpften Anfangsverdachts abgehalten und dabei massiv Edathys Persönlichkeitsrechte verletzt hatte. Wer das System kennt, wird nicht mit einem Erfolg der hiergegen gerichteten Dienstaufsichtsbeschwerde Edathys rechnen, obwohl sie begründet ist.

http://www.youtube.com/watch?v=l8-O5uot-Yk

Sein bürgerlicher Tod ist bei der voraussichtlichen Einstellung des Verfahrens eingepreist, was LOStA Fröhlich nicht weiter kümmert. Der schon bekannte GStA Frank Lüttig hält die Hand über ihn, die grüne Justizministerin muß ihn decken, damit sie als Grüne nicht selbst unter Pädophilie-Verharmlosungsverdacht gerät, und die Medien interessiert der Rechtsstaat schlichtweg gar nicht, weil es ihnen auf ihrem falschen Trip allein darum geht, eine politische Seilschaft auszumachen, die Edathy gewarnt haben könnte. Dabei überhören sie geflissentlich, daß LOStA Fröhlich das mediale Gerücht, Edathy habe Festplatten zerstört, diskret widerlegt hat. Man habe Krümel gefunden, die man daraufhin untersuchen müsse, ob sie zu einer Festplatte gehört haben könnten. Ahja.

Der Diebstahl seines Laptops vom 31.1.2014: hochverdächtig. So geht das fort und fort in den Medien und bei ihren Leser-Kommentatoren, die ihr Unwert-Urteil längst gesprochen haben. Aber da alle genau wissen, daß strafrechtlich nichts zu machen ist, setzt sich die Verurteilung auf der moralischen Ebene fort: wer bei einem „Kinderporno-Ring“ bestellt, muß damit rechnen, daß die Kinder, die in harmlosen FKK-Filmen mitwirken, für härtere Produktionen mißbraucht werden.

Auch dieser Vorwurf geht an der Realität vorbei. Azovfilms war eine legale Plattform, die jahrelang unbehelligt existierte und florierte, bis die kanadischen Behörden entdeckten, daß der Betreiber Brian Way daneben auch eine anonyme Seite mit Kinderpornographie betrieb, persönlich eine riesige Menge an kinderpornographischem Material besaß und daß einige der auch über die legale Seite vertriebenen Filme sexuelle Handlungen zeigten.

Wie die legale Seite von Azovfilms tatsächlich aufgebaut war, läßt sich eher zufällig diesem Bericht entnehmen, in dem es um einen Polizeibeamten in Mecklenburg-Vorpommern geht, der im Zuge der Edathy-Berichterstattung als Kollateralschaden ebenfalls, wenn auch noch anonym, ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde:

Obwohl der Beamte nur auf der Liste derjenigen stand, die kein strafrechtlich relevantes Material bestellt hatten, leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein und ordnete eine Hausdurchsuchung an. Die Auswertung der sichergestellten Materialen – darunter Computer-Festplatten und Kontoauszüge – ergab zunächst nichts, was den Verdacht pädophiler Neigungen hätte erhärten können.

Auch die meisten der beim kanadischen Azov-Versand zwischen 2005 und 2008 bestellten Filme hatten mit Kinderpornografie oder Pädophilie angeblich nichts zu tun. Es seien Klassiker der Kinogeschichte darunter gewesen – und Filme, die auf internationalen und nationalen Festspielen gezeigt oder prämiert worden waren. Zwei Werke auf der Liste aber seien „nicht als künstlerisch zu bezeichnen“, wie es in Ermittlerkreisen heißt. Der Beamte soll ausgesagt haben, er habe diese Filme weder gesehen, noch bestellt.

Einstellung des Verfahrens gilt als wahrscheinlich

Auf den kanadischen Filmversand sei er demnach gestoßen, nachdem er in Internet-Suchmaschinen die Titel der ihn interessierenden Filme eingegeben habe. Nichts auf den dann aufgerufenen Webseiten sei ihm schmuddelig oder anderweitig verdächtig vorgekommen. In Justizkreisen gilt eine baldige Einstellung des Verfahrens, mangels hinreichenden Tatverdachts, als wahrscheinlich.

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/edathy-affaere-polizist-aus-meck-pomm-auf-kinderporno-kundenliste-a-962095.html

Rechtswidrige Hausdurchsuchungen scheinen in Deutschland mithin üblich geworden zu sein. Das Landgericht Hannover hat am 1.4.2014 Edathys Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluß verworfen.

http://www.n-tv.de/politik/Edathy-scheitert-mit-Beschwerde-article12606881.html

Ganz offensichtlich muß das BVerfG die seinerzeit von Verfassungsrichter a. D. Mellinghoff angestoßene Serie der Aufhebungen derartiger Durchsuchungsbeschlüsse dringend fortsetzen, wie zuletzt am 13.3.2014 geschehen.

http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20140313_2bvr097412.html

Denn es wachsen immer wieder neue Richtergenerationen heran, die dahingehend erzogen werden müssen, unsittliche Anträge der Staatsanwaltschaft nicht wegen Arbeitsüberlastung oder fehlender Distanz zur Staatsanwaltschaft mehr oder weniger prüfungslos durchzuwinken. Der Begriff „Richtervorbehalt“ hatte mal einen bedeutsamen Klang. Heute kommt einem eher eher die Assoziation von Schall und Rauch in den Sinn.

Wie immer in derlei moralisierender Skandalisierungsatmosphäre – niemand empört sich über ausgebeutete rumänische Bauarbeiter, selbst wenn ihnen der Lohn vorenthalten wird oder sie Opfer von Arbeitsunfällen werden, viele aber, wenn es um Kinder und deren Persönlichkeitsrechte geht, selbst wenn sie von ihren eigenen Eltern, der Globalisierung sei dank, verkauft werden – wird plötzlich eine strafrechtliche Regelungslücke entdeckt, die zu schließen sei. Daß in einem Rechtsstaat das Schwert des Strafrechts stets nur das letzte Mittel ist, um unliebsames Verhalten abzustellen, gerät in diesem Sog der öffentlichen Empörung unter die Räder. Ebenso die rechtsstaatliche Voraussetzung, daß es um rationale Strafzwecke gehen muß. Politiker sind offenbar, parteiübergreifend, Populisten und keine Rechtsstaatler. Zu der geplanten Strafvorschrift des Verbots eines kommerziellen Handels von FKK-Bildern und Filmen lasse ich daher eine Strafrechtlerin zu Wort kommen.

Der Fall Edathy

Schutzlos?

19.03.2014  ·  Nacktfotos von Kindern: Der Gesetzgeber sollte aus dem Fall Edathy keine vorschnellen Schlüsse ziehen.

Von Tatjana Hörnle

Welche kriminalpolitischen Forderungen sind aus den Diskussionen zu ziehen, die im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Sebastian Edathy entstanden? Für Verfahrensrecht und Medienethik drängt sich eine Folgerung auf: Presse und Justizbehörden sollten vor Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen (solange es Vermutungen, aber keine Nachweise gibt) auf keinen Fall die Namen von Beschuldigten nennen. Im Hinblick auf das materielle Strafrecht steht die Frage im Raum, ob es bei Straftatbeständen Änderungsbedarf gibt. In Meinungsäußerungen war oft zu lesen und zu hören, dass die Strafnormen gegen Kinderpornographie erweitert werden sollten. Der Bundesjustizminister hat umgehend auf öffentliche Empörung reagiert, indem er einen Gesetzentwurf ankündigte, der den gewerbsmäßigen Handel mit Bildern, die Kinder nackt zeigen, unter Strafe stellen soll. Die Schnelligkeit solcher Reaktionen ist politisch nachvollziehbar. Sie ist aber auch Anlass für Warnungen: Der Qualität eines Rechtssystems ist es nicht zuträglich, wenn Kriminalpolitik vorwiegend oder gar ausschließlich in reaktiver Weise am Tagesaktuellen ausgerichtet wird. Zu bedenken ist, dass es in hohem Maße zufallsabhängig ist, auf welchen Einzelfall sich der Scheinwerfer der öffentlichen Aufmerksamkeit gerade richtet.

Nacktaufnahmen von Kindern sind keine Kinderpornographie. Kennzeichen pornographischer Schriften ist, dass diese sexuelle Handlungen zeigen (so § 184b Abs. 1 StGB) – die Betonung liegt auf Handlungen. Die Porträtaufnahme eines nackten Körpers oder die Aufnahme von unbekleideten Kindern am Strand, beim Spielen und so weiter ist keine pornographische Schrift.

[…]

http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/nacktfotos-von-kindern-12854284.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Kehren wir zurück nach Bayern, wo der Fall Cornelius Gurlitt langsam aber sicher die Absurdität offenbart, die ihn gebar. Bei einer Zugfahrt von Zürich nach München wird im September 2010 ein älterer Herr kontrolliert, der sich mit seinem österreichischen Paß (Wohnsitz Salzburg) ausweist und erklärt, daß er nichts anzumelden habe. Da er einen nervösen Eindruck macht, wird er durchsucht (im Umgang mit Zollbeamten sei also eine gewisse Chuzpe empfohlen), man findet 9.000,- Euro, die tatsächlich unterhalb der meldepflichtigen Grenze liegen. Gurlitt teilt mit:

Das Geld stamme von Bilderverkäufen, die sein Vater während der NS-Zeit mit dem Berner Auktionshaus Kornfeld getätigt habe.

[FOCUS 14/2014, 31.3.2014, S. 45]

Jetzt nehmen wir mal dem FOCUS, der in aller Selbstverständlichkeit, Steuergeheimnis hin, Steuergeheimnis her, strafbare Durchstechereien im Interesse der Strafverfolgungsbehörden an die Presse sind mittlerweile an der Tagesordnung, in demselben Artikel behauptet, „FOCUS konnte erstmals die wichtigsten Ermittlungsakten einsehen“, ab, daß er jene Akten auch lesen kann und daß die zitierte Wiedergabe zutreffend ist. Mit dieser Erklärung Gurlitts gegenüber den Zollbeamten hätte die Sache erledigt sein können, wenn nicht müssen.

Genau an dieser Stelle gibt es ein missing link. War bereits die Kontrolle kein zufälliges Ereignis? Was genau animierte die Zollbeamten, nach diesem banalen Ereignis in Vorermittlungen einzutreten? Ein naheliegender Verdacht wäre die Vermutung eines schweizerischen Schwarzgeldkontos gewesen, dessen Kapitalerträge nicht versteuert werden. Zur Verfolgung dieses Vorwurfs wäre aber weder der Zoll noch die Staatsanwaltschaft Augsburg zuständig gewesen, sondern die für den Wohnsitz des Steuerpflichtigen zuständige Staatsanwaltschaft. Nun war Cornelius Gurlitt in München zwar nicht gemeldet, bezahlte dort aber, was leicht zu überprüfen war, die Grundsteuer für seine dort gelegene Eigentumswohnung. Sonstige leicht zu ermittelnde Datenspuren – Krankenkasse, Rentenversicherung, Steuernummer – hatte er nicht hinterlassen. Völlig unbekannt war zudem, ob der ältere Herr mit zwei Staatsbürgerschaften und angemeldetem Wohnsitz in Salzburg überhaupt in Deutschland einkommensteuerpflichtig war.

Offenbar stieß man im Internet auf seinen Vater Hildebrand Gurlitt, den schillernden Kunsthändler, und ließ der Phantasie auf der Suche nach einem zuständigkeitsbegründendem Delikt freien Lauf. Denn schon im Dezember 2010 kam es zu einem aufschlußreichen Rechtshilfeersuchen an die Schweiz.

In einem Rechtshilfe-Antrag an die Schweiz vom 17. Dezember 2010 äußerten deutsche Ermittler den Verdacht, Gurlitt verfüge in der Schweiz über weitere Vermögenswerte. Es könnten sich rechtswidrig entzogene Kunst- und Kulturgüter in seinem Besitz befinden. Gurlitt bestreite seinen Lebensunterhalt, so vermuteten die Fahnder, zum großen Teil mit Geld, das er aus der Schweiz hole, oder mit „aktuell durchgeführten Verkäufen von Kunstgegenständen in der Schweiz und in Deutschland“. Die Fahnder gehen davon aus, dass Gurlitt „sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart Kunstgegenstände, die in der Schweiz lagerten bzw. lagern, entgegen zoll- und steuerrechtlichen Vorschriften aus der Schweiz einführte oder einführen ließ, um diese dann innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu verkaufen.“

[wie vor, S. 45f.]

Diese Konstruktion wies den zusätzlichen Charme auf, daß die Schweiz, anders als bei bloßer Steuerverkürzung, Rechtshilfe leistet. Insoweit gleichen sich die Fälle Edathy und Gurlitt: ein Anfangsverdacht ist schnell gezimmert, man muß lediglich über kriminalistische Erfahrung, unbekümmerte Vermutungsfähigkeit und ansprechende Formulierungskunst („ist davon auszugehen“) verfügen. Die Staatsanwaltschaft Augsburg, die dieses Verfahren am 20.5.2011 übernahm, gebietet idealerweise auch über die entgegengesetzten Fähigkeiten, die es erlauben, auf die wohlbegründete Strafanzeige Gustl Mollaths wegen Freiheitsberaubung gegen einen Amtsrichter und einen Psychiater in Augen-zu-und-durch-Manier einen Anfangsverdacht abzulehnen. So bleibt sie stets „Herrin des Verfahrens“.

http://www.strate.net/de/dokumentation/Mollath-Einstellungsverfuegung-Augsburg-2013-02-26.pdf

Bezeichnenderweise teilt der FOCUS nicht mit, was denn aus diesem uralten Rechtshilfebegehren geworden ist. Kein Wunder, lautet doch der reißerische Titel des Artikels von Krischer/Röll/Spilcker:

Schatz in der Schweiz?

Im Fall Gurlitt wissen die Fahnder von Schließfächern in Zürich. Dort vermuten sie neben Geldvermögen ein Versteck für weitere Kunstwerke

[wie vor, S. 44]

Gurlitts PR-Mann – ja, so etwas braucht ein an die Öffentlichkeit gezerrter „Beschuldigter“, der von der Presse der Presse zum Fraß vorgeworfen wird – Stephan Holzinger winkt per Twitter müde ab:

@promi24 Nein. Kalter Kaffee. Längst von CH-Behörden geprüft. Es gab solche Fächer, aber sie enthielten weder Geld noch Bilder #Gurlitt
Stephan Holzinger (@Holzinger_Assoc) March 30, 2014

Seit dem 4.11.2013 überlagert das vom FOCUS ausgelöste internationale mediale Treiben um den „Nazi-Schatz“ das eigentliche Ermittlungsverfahren, das seit zwei Jahren auf der Stelle zu treten scheint. Warum sollte jemand, der in der EU, nämlich in Österreich und in Deutschland, über umfangreiche Kunstsammlungen verfügt, nun ausgerechnet aus der Schweiz Waren zum Verkauf einführen? Wie kommt die Staatsanwaltschaft auf die eher fernliegende Idee, Cornelius Gurlitt sei ein gewerblicher Kunsthändler, der daher in Deutschland, tatsächlicher Lebensmittelpunkt erst seit 2011, einkommensteuerpflichtig sei? Welche zivilrechtlichen Subsumtionen mögen zu dem nachträglichen Vorwurf von noch zu konkretisierenden Unterschlagungen geführt haben, der die Auftragsvergabe von Provenienzforschung begründete?

c) Unterschlagung

Die Staatsanwaltschaft geht ferner für einzelne Kunstwerke von dem Vorwurf der Unterschlagung (§ 246 StGB) aus. Dem liegt die Annahme zugrunde, bereits der Vater von Cornelius Gurlitt, Dr. Hildebrandt Gurlitt, habe beim Erwerb der Kunstwerke in der NS-Zeit aus Rechtsgründen nicht wirksam Eigentum daran erlangt. Deshalb habe Cornelius Gurlitt auf dem Wege der Erbfolge ebenfalls kein wirksames Eigentum daran erlangen können, weshalb es sich für ihn rechtlich um fremde Gegenstände handele. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Herr Gurlitt sich dieser Umstände auch bewusst war. Die eigentliche Unterschlagungshandlung sieht die Staatsanwaltschaften in dem Angebot dieser Bilder zum Verkauf an ein Auktionshaus. Herr Gurlitt bestreitet diesen Vorwurf; auch die Verteidigung hält ihn für unbegründet.

http://www.gurlitt.info/de/strafrecht.html

Wie im Fall Edathy überlagert die moralische Frage, wie mit Raubkunst umzugehen sei, wenn es keine Rechtsansprüche auf Herausgabe mehr gibt, die rechtliche, wie in einem Rechtsstaat mit Anfangsverdacht, Beschlagnahme, Ermittlungen und deren Öffentlichmachung umzugehen ist. Während der Staatsanwaltschaft Hannover zu Unrecht vorgeworfen wird, sie habe den Anfangsverdacht um drei Monate zu spät gefaßt (tatsächlich hätte sie ihn ablehnen müssen), wird der Staatsanwaltschaft Augsburg fälschlicherweise zur Last gelegt, sie hätte die Provenienzforschung offensiver und öffentlich betreiben sollen (dabei hätte sie die Bilder gar nicht erst sicherstellen dürfen). Und selbstverständlich tut sich auch im Fall Gurlitt eine Regelungslücke auf, die Bayerns Justizminister Prof. Bausback mit einem hastig zusammengeschusterten Gesetzesentwurf schließen wollte: dieser hätte nicht nur das gesamte BGB umgekrempelt, denn um Kulturgut-Rückgewährung ging es nur in der Gesetzesüberschrift, sondern auch im konkreten Fall Gurlitt nichts genutzt. Der Entwurf ist am 14.3.2014 kurzerhand vom Bundesrat versenkt worden und lebt als unverbindliche Prüfempfehlung an die Bundesregierung unter Beteuerung hehrer und weniger hehrer Absichten fort. Denn nun reihen sich auch die öffentlichen Museen unter die NS-Opfer ein und begehren die ihnen vom Nazi-Staat „geraubte“ „entartete Kunst“ zurück.

http://www.justiz.bayern.de/media/pdf/gesetze/kulturgut_rs.pdf

http://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2014/0001-0100/94-14%28B%29.pdf?__blob=publicationFile&v=1

Es blieb dem Betreuer des überforderten und herzkranken Cornelius Gurlitt vorbehalten, ein schlagkräftiges Team von Anwälten und einem PR-Fachmann zu bilden, das die amorphe Struktur des öffentlichen Diskurses kanalisierte und die ruinierte Reputation und Existenz des Mandanten, der bestensfalls als „Sonderling“ und „komischer Kauz“, schlimmstenfalls als „Messie“ und „Hüter des Nazi-Schatzes“ durch den Blätterwald getrieben wurde, wiederherstellte. Zweigleisigkeit, Trennung und Transparenz kennzeichnen das Konzept.

Pressemitteilung

Beschwerde gegen Beschlagnahmebeschluss des Augsburger Amtsgerichts eingereicht – Cornelius Gurlitt weiterhin dialogbereit und sich seiner moralischen Verantwortung bewusst

München, 19.02.2014. Die Strafverteidiger von Cornelius Gurlitt, Professor Dr. Tido Park und Derek Setz, haben am 14.02.2014 beim Amtsgericht Augsburg auf Grundlage des Paragrafen 304 Strafprozessordnung (StPO) Beschwerde gegen den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 23.09.2011 (Az. 61 Gs 5213/11) eingelegt.

Mit dieser Beschwerde ist der Antrag verbunden, den damals ergangenen Beschluss und die auf seiner Grundlage erfolgte Beschlagnahme aufzuheben.

„Herr Gurlitt und ebenso seine Verteidigung sind sich der moralischen Dimension dieses Falls durchaus bewusst. Das Strafverfahren ist jedoch nicht der richtige Ort für moralische Kategorien“ betont Tido Park. Sein Kollege Derek Setz ergänzt: „Wir haben vor dem Hintergrund des immensen öffentlichen Interesses und der politischen Debatten eine begründete Sorge um die Rechtsstaatlichkeit dieses Verfahrens.“

Die Beschlagnahmeanordnung war mit dem Verdacht der Einfuhrumsatzsteuerhinterziehung begründet worden, der aus Sicht der Verteidigung nicht gerechtfertigt ist.

Die ausführlich begründete, 45 Seiten umfassende Beschwerde stützt sich unter anderem auf formelle Mängel des damaligen Gerichtsbeschlusses und die mangelnde Verdachtsgrundlage. Des Weiteren wird bemängelt, dass eine Beweisrelevanz der beschlagnahmten Bilder für den Vorwurf der Einfuhrumsatzsteuerhinterziehung nicht ersichtlich ist und die Beschlagnahme der gesamten Sammlung gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt. Dies wiegt nach Ansicht der Verteidigung besonders schwer.

Cornelius Gurlitt weiterhin dialogbereit und sich seiner moralischen Verantwortung bewusst

Obwohl Cornelius Gurlitt selbst in keiner Weise an möglicherweise fragwürdigen Erwerbsvorgängen beteiligt war, empfindet er eine starke moralische Verantwortung. Er strebt deshalb nach wie vor freiwillig und in eigener Verantwortung einvernehmliche Lösungen mit privaten Anspruchstellern bei Kunstgegenständen an, deren Herkunft möglicherweise problematisch ist.

„Gleichwohl ist die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlagnahme des Schwabinger Teils seiner Sammlung für Cornelius Gurlitt insbesondere deshalb von besonderer Bedeutung, weil in einem Strafverfahren Recht und Moral strikt zu trennen sind und ein Strafverfahren auch nicht dazu zweckentfremdet werden darf, Restitutionsansprüche zu klären“ erläutert Tido Park.

http://www.gurlitt.info/de/pressemitteilungen/pressemitteilung-19-02-2014.html

Mit der Beschwerde gegen einen dürren zweiseitigen Beschluß des Amtsgerichts Augsburg – in der SÜDDEUTSCHEN vom 27.3.2014, S. 3, wird sie von den Autoren Leyendecker, Mascolo und Häntzschel als „kleines Kunstwerk dieser juristischen Sparte“ bezeichnet und eingeschätzt, „sie könnte selbst Bundesrichtern etwas abverlangen“ – soll Klarheit in strafrechtlicher Hinsicht erreicht werden. Mit der bevorstehenden Rückgabe des wertvollen Matisse-Gemäldes „Die Sitzende“ an die Erbinnen des beraubten Kunsthändlers Paul Rosenberg ein Zeichen des guten Willens gesetzt werden:

Beitrag vom 27.03.2014

Gurlitt Ein möglicherweise beispielhafter Schritt

Von Stefan Koldehoff

In Salzburg sind wieder neue Bilder der Sammlung von Cornelius Gurlitt gefunden worden. Er hat angekündigt, alle Werke auf ihre Herkunft hin untersuchen zu lassen und sie ihren legitimen Besitzern zurückzugeben. Das könnte Vorbild für private und öffentliche Besitzer von NS-Raubkunst sein, sich dem anzuschließen, kommentiert Stefan Koldehoff im Deutschlandfunk.

[…]

Während bei der Staatsanwaltschaft und bei den kunsthistorischen Erfüllungsgehilfen der eigens eingerichteten „Taskforce“ seit Monaten Funkstille herrscht, werden Cornelius Gurlitt und seine Anwälte nun aktiv: Sie kündigen die Rückgabe eines ersten Bildes von Matisse an die Erben des jüdischen Kunsthändlers Paul Rosenberg an. Weitere sollen folgen: Man sei sich der historischen und moralischen Verpflichtung bewusst, heißt es. Und Gurlitt will alle in Salzburg gefundenen Bilder auf deren Herkunft hin untersuchen – und jene ebenfalls restituieren, die auch zwischen ’33 und ’45 ihren legitimen Besitzern abgepresst oder gestohlen wurden. Sollten sie diese Ankündigungen tatsächlich umsetzen, wäre damit ein Beispiel gegeben, dem sich viele private und öffentliche Besitzer von NS-Raubkunst anschließen sollten.

http://www.deutschlandfunk.de/gurlitt-ein-moeglicherweise-beispielhafter-schritt.720.de.html?dram:article_id=281375

Zum Transparenz-Angebot gehört es auch, ausgewählten Journalisten, sogar einer heftigen Kritikerin wie Ira Mazzoni, einen Blick auf die in einem gesicherten Depot in Österreich lagernden Bilder aus dem Salzburger Haus werfen zu lassen:

http://www.sueddeutsche.de/kultur/fall-gurlitt-gefangene-der-geschichte-1.1922658

Mittlerweile bietet glücklicherweise die Justiz in zweiter Instanz Schutz vor den gewohnheitsmäßigen Verletzern der Privatsphäre von der BILD-Zeitung, die sich hier als Doppel-Agentin für mögliche Anspruchsteller einerseits, als Auflagen-Optimiererin andererseits inszenieren wollte:

München, 28. März 2014

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

– Pressemitteilung –

Schwabinger Kunstfund: kein Auskunftsanspruch der Presse

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat mit Beschluss vom 27. März 2014 einen presserechtlichen Auskunftsanspruch abgelehnt, mit dem der Freistaat Bayern im gerichtlichen Eilverfahren zur Auskunft über alle im Zusammenhang mit dem Schwabinger Kunstfund beschlagnahmten Kunstwerke verpflichtet werden sollte.

Ein Journalist einer deutschen Tageszeitung begehrte vom Freistaat Bayern im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Auskunft über alle in der Münchener Wohnung eines Kunstsammlers aufgefundenen und beschlagnahmten Kunstwerke und zu den bisherigen Bemühungen des Freistaats Bayern um Aufklärung der Eigentumsverhältnisse an diesen Werken. Vor dem Verwaltungsgericht Augsburg hatte der Journalist im Wesentlichen Erfolg (vgl. Pressemitteilung des VG Augsburg vom 31.1.2014, http://www.vgh.bayern.de/vgaugsburg/oeffentl/pm/index.php).

Der BayVGH hat auf die Beschwerden des Freistaats Bayern und des Kunstsammlers die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Augsburg abgeändert und den Antrag abgelehnt.

[…]

Die Entscheidung des BayVGH ist unanfechtbar.

(Bayer. Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 27.3.2014, Az. 7 CE 14.253)

http://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/pm_2014-03-28.pdf

Hier der aufgehobene Beschluss der Vorinstanz vom 29.1.2014:

http://openjur.de/u/680756.html

Wieviel finanzieller Aufwand erforderlich war und ist, um sich gegen den Freistaat Bayern, die Bundesregierung und die Medien zur Wehr setzen zu können, kann man sich vorstellen. Den ersetzt niemand – wehe dem, der in ein solches Räderwerk gerät…

Wenigstens in der Presse kann man einen wind of change feststellen:

Bild-Rückgabe im Fall Gurlitt

Später Sieg über die Nazis

31.3.2014 15:40 Uhrvon Bernhard Schulz

 

Je ferner die Nazizeit rückt – desto lieber debattieren wir über den Umgang mit ihr. Im Fall Gurlitt läuft dabei allerdings einiges schief.

[…]

Hinsichtlich der Rückgabe von NS-geraubtem Kulturgut hat sich eine eigenartige Dynamik entwickelt. Jede Herausgabe, bildsprachlich als „Rückgabe“ verbrämt, wird insgeheim als später Sieg über Hitler gefeiert. Damit gerät die historische Perspektive in Schieflage. Denn wie viele Bilder auch restituiert werden mögen – sie bleiben die Spitze eines Eisbergs. Des Eisbergs der untilgbaren Tatsache, dass es dieses NS-Regime gegeben hat, mit allen Taten und Untaten.

Die Treibjagd auf Einzelne mindert daran kein Jota. Die Brandmarkung eines Gurlitt entlastet nichts und niemanden. Und der Rechtsstaat mit all seinen, bisweilen als störend empfundenen Schutzrechten ist eine zu kostbare Errungenschaft, um ihn für Stellvertretersiege einer wohlfeilen Moralität zu beschädigen.

http://www.tagesspiegel.de/meinung/bild-rueckgabe-im-fall-gurlitt-spaeter-sieg-ueber-die-nazis/9690064.html

Im Windschatten dieser spektakulären Fälle ereignete sich eher unbeachtet ein weiteres bayerisches Justiz-Debakel in Sachen Gustl Mollath. Man ist es zwar schon gewohnt, daß dort unheimliche Mächte und Kräfte am Werk sind, die eine Einsicht in eigene Fehler verhindern. Aber daß das Oberlandesgericht Bamberg einen klaren Auftrag des Bundesverfassungsgerichts glatt unterlaufen würde, hätte ich mir dann doch nicht träumen lassen. Selbst die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg hatte beantragt, den vom BVerfG als verfassungswidrig gerügten Fortdauerbeschluß des Landgerichts Bayreuth von Juni 2011 aufzuheben, den das OLG seinerzeit mit ebenfalls als verfassungswidrig gerügtem routinierten Bestätigungsbeschluß gehalten hatte. Letzterer war durch das BVerfG aufgehoben worden.

Nun war das OLG zu neuer Sachentscheidung berufen, die es allerdings glatt verweigerte. Ein entsprechendes Rechtsschutzinteresse des rechtswidrig seit 2011 der Freiheit Beraubten bestünde nicht, behauptete das OLG keck, es reiche aus, die damalige Beschwerde gegen den verfassungswidrigen Beschluß des Landgerichts Bayreuth schlicht für erledigt zu erklären. Denn der (rechts- und verfassungswidrige) mit der Beschwerde angegriffene Beschluß des Landgerichts Bayreuth von Juni 2011 sei gegenstandlos, seitdem Gustl Mollath wegen der Anordnung der Wiederaufnahme am 6.8.2013 entlassen worden sei.

Das BVerfG hatte indes am 26.8.2013 wegen des Rehabilitierungsinteresses von Mollath in der Sache entschieden, obwohl er bereits zu diesem Zeitpunkt aus anderen Gründen bereits freigekommen war.

Angesichts dieser Halsstarrigkeit bleibt einem die Spucke weg. Rechtsanwalt Strate glücklicherweise nicht.

http://www.strate.net/de/dokumentation/Mollath-OLG-Bamberg-Beschluss-2014-03-24.pdf

http://www.strate.net/de/dokumentation/Mollath-OLG-Bamberg-2014-03-27.pdf

Aber es hilft nichts: gegen eine solche hartleibige Justiz hilft nur ein neuer Geschäftsverteilungsplan beim Oberlandesgericht und, erneut, das Bundesverfassungsgericht. Rechtsstaat muß immer wieder neu erkämpft werden, ganz besonders in Bayern.

Alle diese Verfahren erschüttern das Vertrauen in die Justiz.

Hinzu kommt: die Aufarbeitung des nächsten bayerischen Polizei- und Justizskandals, die erneute Hauptverhandlung im Fall „Peggy“ im Wiederaufnahmeverfahren von Ulvi Kulac ab dem 10.4.2014, steht vor der Tür – und sie wirft ihre unguten Schatten bereits voraus.